Rezensionen / Presse zu «Nordrand»
Dietrich Kuhlbrodt in "Schnitt"
Zupfen und Zausen
Margarethe Tiesel ist die Älteste unter den jungen Leuten am «Nordrand». Blond, lockig, österreichisch-üppig und in einem Rock, der ihr zu kurz ist. Energisch zupft sie ihn sich herunter, während sie am Zausen ist, nämlich der Tochter, wie Mütter es tun, den Kopf zurechtsetzt. Zupf und zaus. Zupf und zaus. Margarethe kenne ich schon längst. Ich habe sie auf der Bühne brillieren sehen; in der Remise, dem alten Wiener Tram-Depot, sind wir zusammen aufgetreten; ja, ich habe sogar bei ihr gewohnt, in der Mariahilfer Straße, Hochbett, in Wien trennt man sich lieb mit einem singenden "Babaa", und es ist alles nur gespielt; ich weiß es jetzt, weil das Zupf & Zaus die Wahrheit ist, die allein- und einzige, die «Nordrand»-Margarethe ist die wirkliche Margarethe.
Überhaupt sind alle Leute, die in «Nordrand» spielen, echt. "Authentisch" wäre schon das falsche Wort; es röche nach Botschaft und Regieanweisung (bringt das mal schön authentisch rüber); im Film wird jedoch niemand instrumentalisiert, etwas zu vermitteln; gerade deswegen stimmt das, was gezupft und gezaust wird. Dabei war das Risiko groß, den «Nordrand» als Forum politischer sowie moralischer Botschaften zu nutzen. Wir sind, neudeutsch gesagt, in einer Plattenbausiedlung im Norden Wiens. 1995. Nachrichten vom Krieg in Jugoslawien, der TV-Sprecher verliest das Dayton-Abkommen. Die Schülerinnen Jasmin und Tamara treffen sich in der Abtreibungsklinik wieder. Hinterher geht es weiter wie vorher. Sex mit dem jungen Mann aus Sarajevo? Mit dem Netten aus Rumänien? Mit dem Wiener, der als etwas arbeitet, das dort Präsenzdiener genannt wird? Das lädt ein, Vorschläge zur Weltverbesserung zu machen. Oder den üblichen verdächtigen Beziehungskitsch zu verbraten. Unter der Regie von Barbara Albert: nichts davon! Ein Wunder: Es geht in ihrem Film weder um Beziehungen noch um Beziehungslosigkeit; wohl aber um ein wenig Spaß am Wen-Treffen und ein bißchen Sex und um die Depression, die im Hintergrund lauert. Jasmin liegt betrunken im Schnee, die Jungs prügeln sich, die Mutter nervt, das Leben nervt, grad deswegen braucht sie Lidschatten, grellblauen, die Bomberjacke und die Dauerwelle, um unbedingt euphorisch zu werden.
Was im Film passiert, ist nicht vorherzusehen. Deswegen bleibt man dran, und deswegen wäre es blöd, hier eine Handlung zu erzählen, um die es sowieso nicht geht. Barbara Albert, die Regisseurin, gab auf der Bühne des Kinos in Graz dementsprechend nicht die eindeutigen Statements ab, die die Volksbelehrer im Publikum von ihr erwarteten. Welche Forderungen richtet sie an die österreichische Ausländerpolitik? Wie steht sie zu Belgrad? Was ist ihre klare Position zur Abtreibung? Barbara Albert, fast schon 30, antwortete auf die Ansinnen mit einer Flut von Gegenfragen, die sie an sich selbst richtete. Sie wirkte viel jünger, Studentin eher in den ersten Semestern, echt unsicher und daher überzeugend.
Allerorten gewinnt sie Preise für ihren Film. Nach dem großen Erfolg von «Nordrand» würde es sich lohnen, den Film, den sie ein Jahr zuvor gedreht hat, ins Kino zu holen. Dabei handelt es sich um die Episode «Tagada» im Drei-Episoden-Film «Slidin’ - Alles bunt und wunderbar». Auch hier geht es ums Zusehen, auf die Beachtung der textilen, sprachlichen, gestischen, Schmink-Codes, ums Verhalten, um die Erprobung von Nähe, um peripheren Sex, um unvorhersehbare Brutalität, um zwei Freundinnen, um Jugendliche, die herumziehen, um die wunderbare Welle, die dann doch nicht trägt. Schon in «Slidin'» sind die tausend echten Details angenehm rhythmisiert; der Film ist echt - auch wenn sie nicht dabei ist, Mutter Margarethe Tiesel.
Gerhard Midding, "Freitag - Die OstWest-Wochenzeitung", 1. September 2000
Glückssucher
Ein Filmplakat stellt oft die erste Begegnung her zwischen einem Film und seinen Zuschauern. Manchmal ist das Plakatmotiv nicht nur ein Szenenfoto, das unser Interesse wecken und uns vielleicht gar in den Bann des Films schlagen soll. Im besten Fall ist es ein Schlüsselbild, das Spuren auslegt zu den Figuren, der Geschichte und der Stimmung des Films. «Nordrand», der Debütfilm der Österreicherin Barbara Albert, hat den Vorzug, mit einem solch eindringlichen Sinnbild beworben zu werden. Zwei junge Frauen sind gerade auf die Straße hinausgetreten und werden vom frisch fallenden Schnee überrascht. Die Eine wirkt wehmütig, grüblerisch, ihr Blick ist gedankenverloren aus dem Bild gerichtet. Neben ihr ist ein Schild zu erahnen, es könnte das einer Arztpraxis sein. Die Andere hat ihr Gesicht lächelnd den sanft fallenden Flocken zugewandt. Mit weit ausgestreckten Armen öffnet sie sich, wie eine Tänzerin, der Heiterkeit dieses Augenblicks. Welche der beiden Stimmungen wird überwiegen? Wird der Film sie ausbalancieren? Oder seine Spannung beziehen aus ihrem Nebeneinander?
Tamara (Edita Malovcic) und Jasmin (Nina Proll) waren einst Schulfreundinnen, beide stammen aus einer Hochhaussiedlung im Norden Wiens. Nun begegnen sie sich Jahre später in einer Abtreibungsklinik wieder. Für die impulsive, unbesonnene Jasmin sollte die Schwangerschaft ein Ausweg sein aus der bedrückenden Enge ihres Zuhauses. Tamara hingegen, die das Leben ungleich verantwortungsvoller auffasst, vermisst ihre Familie, die zurück nach Sarajevo gezogen ist; auf ihren Freund wird sie sich nicht verlassen. Die ersten, tastenden Schritte in die neu formierte Realität unternehmen sie unversehens gemeinsam. Dabei scheint ihr Temperament zunächst zu gegensätzlich, als dass sie ihre Freundschaft wieder neu besiegeln könnten.Ein Umschnitt stellt gleich darauf leichtfüßig die Verbindung her zu den weiteren Hauptfiguren. Auch der verträumte Rumäne Valentin (Tudor Chrilá) und der bosnische Ex-Soldat Senad (Astrit Alihajdaraj) werden vom Schnee überrascht, auch sie umfängt er in einer Stimmung des Staunens und der Erwartung. Und auch ihre Zukunft ist ungewiss: Senad ist vor dem Krieg aus seiner Heimat geflohen und illegal nach Österreich eingereist, Valentins Gelegenheitsjobs sind ein ungedeckter Wechsel auf seine Hoffnung, nach Amerika auszuwandern.Noch sind die vier Glückssucher auf sich gestellt. Aber bald wird das Drehbuch sie mittels jener Stegreifbegegnungen, die nur den Figuren zufällig erscheinen und im Kino immer ein Versprechen sind, für eine Zeit lang zusammenführen. In dieser Dramaturgie des unverhofften Zusammentreffens erfüllt sich zugleich die Sehnsucht, in der verwirrenden Wahrnehmungsfülle der Großstadt die Überschaubarkeit der eigenen Kindheit wiederzufinden, deren Geborgenheit einzuholen und sich an den Gesten der Freundschaft und schwesterlichen Solidarität im unwirtlichen Erwachsenenleben aufzuwärmen.Barbara Alberts Chronik der Lebenspassagen und -umbrüche weckt Erinnerungen an die frühen Filme Truffauts, ohne dass diese sich als Zitat störend vor die Figuren schieben würden. Auf die Frage, wie man heute von Sozialtristesse und Schicksalen an der Peripherie erzählen kann, antwortet sie mit Bildern, in denen die Anteil nehmende Nähe zu den Figuren regelmäßig über den Naturalismus triumphiert. Die Kamera Christine Maiers ist ihnen eine unverbrüchlich achtsame Begleiterin. Sie verwandelt das Alltägliche nicht, entrückt die Figuren nicht ihrem Milieu. Die ausgeklügelte Tondramaturgie ist indes auf ihre jeweilige Empfindsamkeit abgestimmt, übersetzt ihre subjektive Wahrnehmung, in dem sie mitunter barmherzig die bedrängende Realität ausblendet. Alberts Figuren parieren die Trostlosigkeit mit Humor. Die Regisseurin bietet ihnen jedoch keine leichtfertigen Auswege. Sie misstraut den Ritualen sentimentaler Tröstung, ohne die Sehnsüchte zu desavouieren. In der Beiläufigkeit, mit der sie erzählt, steckt bereits ein rechtschaffenes Maß an Zuversicht. Am Ende haben die divergierenden Träume vom Anderswo und Anderssein das Figurenquartett längst wieder auseinander getrieben. Aber der Film erlaubt es Tamara, für einen Moment den Bogen zurück in ihre Kindheit zu schlagen. In Sarajevo beobachtet sie vom Zug aus ein paar Kinder, die einen Drachen steigen lassen, der die gleiche Form hat wie der, mit dem sie und Jasmin einst spielten: die eines Schmetterlings. Als munteres, unaufdringliches Symbol für Entfaltung und Freiheit wirbelt er durch die Lüfte. Auch er ist übrigens schon auf dem Plakat zu sehen, im Logo des Filmtitels.
"Film des Monats", 1999
Wien im Jahr 1995: Jasmin und die serbischstämmige Tamara treffen sich in einer Abtreibungsklinik erstmals seit ihrer Schulzeit wieder. Jasmin arbeitet als Verkäuferin in einer Konditorei, Tamara ist Krankenschwester. Während Tamara, deren Familie nach Serbien zurückgekehrt ist, versucht, ihr Leben in die Hand zu nehmen, hat Jasmin den Absprung aus der beengten und demütigenden Situation in der elterlichen Wohnung nicht geschafft und lässt sich von einer Liebschaft zur nächsten treiben. Als Jasmin eines Tages halberfroren ins Krankenhaus eingeliefert wird, kreuzen sich die Wege der Frauen erneut. Jasmin zieht bei Tamara ein, es beginnt ein schwieriger Prozess der Annäherung, bis die Lebenswege sich am Ende wieder voneinander entfernen.
Regisseurin Barbara Albert verfolgt die Wege ihrer Protagonistinnen, ihre meist scheiternden Versuche, sich in Beziehungen einzurichten, nur für wenige Tage. Die vielfach bewegte Handkamera, die meist harten Schnitte sowie die multiethnische Musik reflektieren diese Situation des Unsteten und der Unbehaustheit ebenso wie die kulturelle Vielfalt des Milieus.Der Film liefert dabei nicht nur das faszinierende Bild einer Stadt, in der seit Jahrhunderten die Ethnien Europas aufeinander treffen, sich aneinander reiben oder ineinander aufgehen, nicht nur eine Milieustudie vor dem Hintergrund der Wohnsilos im Wiener Norden: In seinem kleinen Welttheater zeigt er auch, wie sehr sich jenseits aller kulturellen oder politischen Barrieren die Menschen in ihren Wünschen nach tragfähigen Beziehungen und der Sehnsucht nach einer Zuflucht ähneln.
"Frankfurter Allgemeine Zeitung", 3. September 1999
(...) Sorgsame, in vielschichtige Episoden aufgeblätterte Beobachtungen, die in der Verlorenheit die Sehnsucht nach Nähe aufspüren.
(...) Und so ist Nordrand kein Problemfilm und kein Sozialdrama. Dafür ist die Atmosphäre des garstigen Lebens am Nordrand zu urban, zu weitläufig; das heisst auf ganz beiläufige Weise grossartig optimistisch.
"Der Standard", 3. September 1999
Alberts Film beeindruckt durch die durch und durch stimmige Konstruktion von dichten, berührenden Szenen.