Ein Gespräch mit Michael Glawogger
Gleich am Anfang eine Frage zum Schluss des Films. Da steht der Satz: „I am very happy“...
... ja, es hat schon Leute gegeben, denen ist dieser Satz wie ein Hohn vorgekommen. Für mich ist das nicht so.
Na ja, du zeigst Menschen im Elend, in der totalen Armut, aber nicht in totaler Hoffnungslosigkeit. Im Gegenteil, sie singen, tanzen, spielen Fussball. Sie sind arm, aber nicht immer unbedingt unglücklich. So wenig Schwarz-Weiss-Malerei sieht man selten.
Es gibt eine Art von Journalismus, der mir oft sehr wie „von oben herab“ erscheint. Da wird Elend von einem Standpunkt aus betrachtet, der nichts anderes erwartet als ausschliesslich Elend zu sehen. Und das hat wiederum oft nur auf oberflächliche Art mit dem tatsächlichen Leben der Leute zu tun. Millionen Menschen leben unter Umständen, die wir uns kaum vorstellen können, und doch sind sie uns in ihrer Art, damit umzugehen, sehr nah.
Sie sind vielleicht glücklicher?
Nein. Aber es geht hier nicht ums Glück.
Glück ist ein so subjektiver Zustand, er hat kaum mit „objektiven“ äusseren Umständen zu tun. Zum Beispiel kann man es als Glück empfinden, in Indien in einem Zug zu sitzen, der offene Türen hat, und die Füsse raushängen zu lassen, während man in einem ÖBB-Waggon nicht einmal die Fenster aufmachen kann. Trotzdem würde man nicht auf die Idee kommen, einen Inder deshalb als glücklicher zu bezeichnen.
Obwohl man natürlich darüber ins Grübeln kommen kann, wie viele Ver- und Gebote es bei uns gibt, nur weil irgend jemand Angst davor hat, von irgend jemand anderem verklagt zu werden.
Aber Journalisten wollten oft etwas aufzeigen, ändern oder aufrütteln. Du zeigst eine Fülle her, bei der man sich bedienen kann...
Die Welt ist ein schrecklicher und doch lebenswerter Ort, das will ich zeigen. Das ist an sich kein besonders origineller Ansatz, aber ich finde, man sollte sich von Zeit zu Zeit darauf besinnen. Ich glaube, viel von unserem Verhältnis zum „Rest der Welt“ ist von Angst geprägt; wir kennen diesen Rest aus vorwiegend schlechten Nachrichten oder - durch eine äusserst bedenkliche Tourismusentwicklung - vom neokolonialistischen Standpunkt der Ressorthotel-Urlauber aus. Aber hinter diesen schlechten Nachrichten und exotisch-freundlichen Hotelkellnern stecken Menschen mit sehr ähnlichen Kämpfen und Träumen wie wir selbst.
Ist das die Botschaft deines Films?
Man wirft mir bei allen meinen Filmen vor, dass ich nicht genug sage, wie ich es meine. Dass ich nur herzeige oder anbiete, dass es aber ab Ende keine Botschaft gibt. Eine Botschaft hiesse: eine Lösung, also das beruhigende Gefühl: ja, so kann es gehen. Ich habe keine Lösung anzubieten, und ich behaupte nicht: nur so ist es, und so ist es gut. Ich finde aber, dass der Film sehr wohl Stellung nimmt, und zwar eben gerade optisch, also filmisch. Er hält den Menschen die Kamera nicht einfach ins Gesicht, sondern er lässt sie sich und ihre Welt darstellen - das ergibt den optisch spielfirmartigen Charakter, der gleichzeitig wesentlich mehr dokumentarische Genauigkeit ermöglicht.
Es gibt zwar nicht die eine Botschaft, aber versteckte Kommentare wie die des Comic-Helden Superbarrio Gómez in Mexico...
Ja, der Superbarrio ist ein Superheld und Ringkämpfer, der von der damaligen Opposition erfunden wurde, um für die armen Leute gegen Missstände wie z.B. die Wohnungsnot zu kämpfen, und mit dem sich die Leute identifizieren konnten. Wir haben mit ihm gemeinsam einen Text über die Stadt verfasst, um dem Film einen Kommentar zu geben, ohne ihm im klassischen Sinn einen Kommentar zu geben.
Er ist eine absurde Figur, die ein Plädoyer für das Absurde hält. Genauso absurd wie das fast schon surreale weisse Pferd im Nebel am Müll...
Auch bei uns ist doch nichts so absurd wie das Reale. Eine Giacometti-Figur auf dem Müllplatz wäre surreal, das Pferd ist äusserst real. Der Müll wird mit Pferdewagen gesammelt, und Nebel gibt es dort oft genug. Trotzdem findet man dieses Bild nicht, wenn man einmal auf die Müllhalde geht - dazu braucht es Zeit und einen bestimmten Blick. Und vielleicht spielt auch die Inszenierung eine Rolle. Ich glaube, man muss bei so einem Film mehr in ein Bild hineinpacken, als in jedem beliebigen Moment da ist, um über das Leben zu erzählen.
Die Inszenierung ist also legitim?
Das ist umgekehrt einfacher zu beantworten: es gibt keinen Dokumentarfilm, der nicht inszeniert ist. Man muss nur das Mass finden.
Das heisst, du hast das Mass von Stadt zu Stadt weiter entwickelt?
Ja, ich bin von Stadt zu Stadt mit den Mitteln des Dokumentarfilms - auch aus dem Zwang der Gegebenheiten heraus - immer radikaler umgegangen. Beim Müll-Einsammeln kann man einfach mitfahren, wenn man aber einen Hustler in New York hat, der Leute ankeilt, ist das dokumentarisch nicht mehr darstellbar. Das ist vielleicht ein ganz gutes Beispiel dafür, was ich zuvor mit der „Darstellung der Welt durch die Menschen“ gemeint habe. Toni der Hustler hat uns erzählt, wie er es macht, und wie die Leute darauf reagieren - und dafür haben wir dann einen Schauspieler gecastet, der improvisieren kann, ihm nicht gesagt, was passieren wird und gehofft, dass etwas entsteht, das dem ähnlich ist, was „in Wirklichkeit“ geschieht bei Tonis Tricks.
Der Film hat sich also von der Ursprungsidee bis zur Endfassung sehr verändert?
Hoffentlich. Eine Idee und ein Konzept ist eine Sache, das braucht man um anzufangen, aber daran darf man sich nicht klammern, indem man nur mehr das sucht, was man finden will. Man muss sich verführen, „hustlen“ lassen. Toni z.B. , der hat mich gefunden. Er hat mich „gehustlet“.
Der Film hat ja auch einen Bogen von einer für uns sehr exotischen Welt zu einer uns immer näher werdenden....
... ja, und der Schluss des Films mit der Frau im Grocery-Store ist völlig das, was wir sind. Sie ist meine Generation, mein Umfeld, und diese junge Frau hat das in wenigen Sätzen schön auf den Punkt gebracht. Wir haben übrigens - das auch noch zur Inszenierung im Dokumentarfilm - diese Radio-Show live inszeniert und haben alle Leute, die jetzt im Film vorkommen und Anrufer waren, im Nachhinein aufgesucht und gebeten, ob sie das, was sie bei der Sendung gemacht haben, noch einmal für uns tun würden. Man kann mit der Kamera nicht an drei Stellen gleichzeitig sein.
New York hat durch dieses „Talk-Radio“ eine ganz eigene, sehr New York-adäquate filmische Form: war es schwierig, für jede Stadt eine eigene Form zu finden und doch das Gemeinsame im Auge zu behalten?
Ich weiss nicht, ob das immer gelungen ist. Ich hab irgendwann gesagt: ich lass mich treiben und mache das, was für die einzelnen Geschichten wichtig ist. Und der Stil des Films ist das, was gleich bleiben wird. Die Kapitel-Struktur unterstreicht das. In jedem Kapitel kann man eine andere Sprache finden. Die innere Stimme von Toni (dem Hustler, Anm.) gibt es sonst nirgends im Film. Aber aufgrund seiner Eloquenz wäre es völlig widersinnig gewesen, ihn so darzustellen wie den wortkargen Müllsammler in Mexico. Das immer gleiche formale Stilmittel würde nur etwas auf die Leute draufdrücken, das nichts mit ihnen zu tun hat.
Ist Toni, der Hustler, eine der Figuren im Film, die dir besonders nah waren?
Er war für mich eines der spannendsten und zugleich fürchterlichsten Erlebnisse. Er hat mich immer als seinen Freund bezeichnet, aber ich wusste nie, was das wirklich bedeutet.
Er war ein Afro-Amerikaner, ein Freund und ein Junkie, das war extrem kompliziert. Er hat mich sicher zu den Grenzen des Films geführt. Er sagte: du nützt mich auch nur aus. Du kommst her, nimmst mein Leben, haust wieder ab und wirst dich nie mehr melden. Dafür hasse ich dich jetzt schon. Gleichzeitig wusste er genau, wie er mich ausnützen konnte, er wusste, wenn er mich um vier Uhr früh anruft, ich werde kommen. Darin liegt eine grosse Zwiespältigkeit, die dann auch ins Filmemachen führt. Hier zeigen sich die Grenzen, man erzählt eine Geschichte und sollte es gar nicht. Man sollte hingehen und was für ihn tun. Aber was? Was könnte ihm helfen? Da ist ein Mensch, ca. 35 Jahre alt, seit ca. 20 Jahren süchtig, welche Chance hätte er? Sehr klug, sehr smart, aber ohne Ausbildung - der könnte in New York auch ohne Drogengeschichte bestenfalls Portier werden, und das würde er keinen Tag aushalten. Sein ganzes Umfeld, seine Lebensart, - ich bin ihm sehr nahe gekommen und ich habe keine Chance gesehen.
Du hast in deinen früheren Filmen wie «Kino im Kopf» oder Kurzfilmen gerne mit Filmmaterial experimentiert...
Ja, mir hat die Idee immer gut gefallen, Filmmaterial wie Malfarben zu verwenden. Ich habe früher im Osten Orwo-Filme gekauft, die kaum Farben haben.
In «Kino im Kopf» gibt es Sequenzen, die auf 10 Jahre altem abgelaufenem Material gedreht wurden.
... in «Megacities» sind von der Experimentierfreude einige Elemente geblieben: wie beispielsweise beim Bioskopmann in Bombay, wo u.a. die Bilder zurück laufen.
Der Bioskopmann war übrigens überhaupt eine aussergewöhnliche Angelegenheit. Den habe ich drei Mal zufällig in einer 15-Mio-Stadt getroffen und wieder verloren. Und es gibt nur den einen.
Du hast dann Kinder seinen Film nacherzählen lassen...
... und habe dann ein Kind meinen Film nacherzählen lassen, als wäre mein Film im Kasten des Bioskopmannes, ja. Und das habe ich dann nachinszeniert. Das ist vielleicht so eine Art von Verspieltheit, die ich immer wieder gern habe.
Wonach hast du eigentlich die Geschichten ausgesucht?
Danach, was mich interessiert hat. Da habe ich mich treiben lassen. Wenn man zu Menschen keine Nähe spürt, kann man auch nichts filmen.
Hast du dich nie gefragt: Kommt da jemals ein Film raus?
Diese Frage habe ich mir oft gestellt. Man muss bei so einem Film erst drauf kommen, wie er geht. Der hat schon ein Eigenleben.
Und wann bist du drauf gekommen?
Vielleicht nie.
Das Gespräch führte Veronika Franz für die „Austrian Film News“.