Interview mit Hauptdarstellerin Emanuelle Devos (Elisa)
Kannten Sie den 1937 erschienenen Roman von Madeleine Bourdouxhe, bevor Frédéric Fonteyne Ihnen die Rolle der Elisa anbot?
Ganz und gar nicht. Als ich aber das Drehbuch erhielt, hat mich diese Geschichte sofort gefesselt. Schön, faszinierend, magisch. Dabei dachte ich aber auch, dass der Film schwierig werden könnte, denn es gab nur wenige Dialoge. Ich dachte mir, dies ist der Film eines Filmemachers schlechthin. Ich wusste, dass die Kamera die Hauptrolle spielen würde. Ich habe eine Weile gezögert. Dann habe ich mich mit Frédéric Fonteyne getroffen. Er erzählte mir von seinem Film, von seinem Vorhaben. Ich glaube, er wollte noch wissen, ob ich seiner Vorstellung von Elisa entsprach und was ich über diese Rolle und diesen Film zu sagen hatte. Eigentlich haben wir nicht besonders viel geredet. Unser Einverständnis war somit nicht sofort sichtbar. Doch ich mag es, wenn es so abläuft, denn ich bin der Meinung, dass Worte bei der Arbeit an einem Film beinahe fehl am Platz sind. Die Art und Weise, wie Frédéric seine Kamera einstellte und mich filmte, bedeutete mir mehr als lange Reden.
Wie haben Sie diese extreme Nähe der Kamera erlebt, die tief in die Gedankenwelt Elisas vordringt?
Ich habe die Kamera gern an meiner Seite. Ich mag, wie sie schnurrt. Es ist so beruhigend wie das Schnurren einer Katze. Da ich sie so nah weiß, übertreibe ich nicht. Manchmal reicht es schon aus, an etwas zu denken. Bei den Dreharbeiten von «La femme de Gilles» ist das Einverständnis mit Virginie Saint-Martin, der Kameraleiterin, die wunderbar mit der Beleuchtung gespielt hat, von großer Bedeutung gewesen. Doch alle Frauen in dem Team haben mir sehr geholfen, denn die Dreharbeiten waren sehr anstrengend.
Was meinen Sie mit „anstrengenden Dreharbeiten“?
Das hat mit der Figur zu tun, mit dem, was sie erlebt. Mit Gilles zusammenleben heißt für Elisa so leben wie im Fruchtwasser. Sie liebt ihren Mann, sie braucht seine Haut, sie schläft gerne mit ihm, selbst wenn sie keinen Orgasmus hat. Sie gibt viel von sich und erwartet nichts dafür. Gilles aber, und dabei verstehe ich ihn ganz gut, setzt dieser so perfekten Fusion ein Ende und geht fremd.
Elisa verkörpert also Frust, alle Frustarten. Aber wie kann Frust dargestellt werden? Wie kann man schweigen, wenn man sich betrogen weiß? Ich habe mir viele philosophische Fragen über Elisas Verhalten gestellt. Diese Figur war harte Arbeit wie noch nie zuvor. Ich habe alle Möglichkeiten durchgespielt. Ist sie autistisch? Ist sie eine Art heilige Maria? Eine universelle Mutter? Elisa kennt keine Eigenliebe, aber sie bewahrt doch immer ihre Würde. Ich hatte große Sorge, ob ihr Verhalten nicht überzogen wirkt, denn zu einem gewissen Zeitpunkt kann der Zuschauer es nicht unbedingt nachvollziehen, warum sie nicht reagiert.
Nie habe ich so sehr an einer Rolle gearbeitet. Ich führte Gespräche mit mir selbst, um sie zu verstehen. Jeden Abend nach den Dreharbeiten ging ich das Drehbuch noch einmal durch, statt auszugehen. Die Drehphase glich eher einem konzentrierten Studium, ohne Partys. Ich habe tagsüber und nachts an Elisa gedacht. Sie hat mich vollkommen beherrscht. Das habe ich zum ersten Mal erlebt. Selbst wenn ich jetzt davon rede, denke ich an ihre Schmerzen zurück und schon kommen mir die Tränen.
Zu den ersten Filmvorführungen habe ich meinen Mann, meinen Agenten geschickt, denn ich hatte Angst, mich selbst zu sehen. Mir kam es so vor, als hätte ich zu viel von meiner Persönlichkeit hineinfließen lassen. Und vielleicht gerade deshalb glaube ich, dass Elisa meine größte Charakterrolle ist. Ich könnte nie so reagieren wie sie. Aber das macht diesen Beruf interessant: jemanden darzustellen, der einem fremd ist. Die Figur in «Sur mes lèvres» von Jacques Audiard zum Beispiel war ich mit 13. Elisa bin ich nicht - und werde ich auch nie sein. Liebe kann ich nicht so leben.
Verstehen Sie Elisas Verhalten?
Verstanden habe ich, dass Liebe schädlich sein kann, so etwa als würde man sich in eine Kluft hineinstürzen. Elisa gehört zu den Frauen, die nur leben können, indem sie sich verlieren. Sie ist unglaublich leidenschaftlich. Was mich aber an ihr am meisten berührt, sind ihre Wutanfälle. Das tat mir gut. Wahrscheinlich, weil es meiner Persönlichkeit besser entspricht.
Madeleine Bourdouxhe schreibt „Liebe brennt immer, wenn sie fehlt“. Was halten Sie davon?
Ich halte viel mehr von dem Motto: „Aus den Augen, aus dem Sinn.“ Ich bin genau das Gegenteil von Elisa. Ich bin überaus lebendig und für mich wird Liebe Tag für Tag erlebt. Dieses Gefühl ist zwar absolut notwendig, aber doch keine Religion. Für Elisa aber ist ihre Liebesbeziehung mit Gilles heilig.
Die Geschichte spielt im Arbeitermilieu der 30er Jahre. Wie hat Ihnen diese Epoche bei der Entstehung Ihrer Figur geholfen?
Vor allem die Kostüme waren von großer Hilfe. Die Kleider der schwangeren Elisa haben den Schritt in die fiktive Welt ermöglicht. Vielleicht hätte ich nie Elisa sein können, wenn ich Jeans und T-Shirt angehabt hätte.
Wie war denn Ihre „Ehe“ mit Clovis Cornillac?
Clovis ist ein so lustiger Mensch, der während der ganzen Drehphase wie ein Ventil für mich wirkte. Wir beide konzentrieren uns auf dieselbe Art und Weise: indem wir lachen. Das, glaube ich, hat anfangs das ganze Team etwas aus der Fassung gebracht. Das ist tatsächlich verwirrend: je dramatischer die Szene, desto heftiger mein Lachen. Bei Clovis ebenso. Zum Glück. Eigentlich war meine tatsächliche Beziehung zu Clovis das genaue Gegenteil von unserer Filmbeziehung, in der er mich ja weinen macht. Ebenfalls mit Laura Smet, die meine Schwester und Gilles’ Geliebte darstellt. In dem Film verkörpert sie die von mir gleichzeitig geliebte und gehasste Schwester, denn sie wird zur Rivalin. Bei den Dreharbeiten haben wir uns sehr gemocht - wir mögen uns immer noch. Mir gefällt, wenn meine Partner zuhören und wenn sie mir zusehen wie ich ihnen.
Wie würden Sie Ihre Zusammenarbeit mit Frédéric Fonteyne beschreiben?
Symbiotisch, wortkarg. Solange er seine „blue note“, die perfekte Aufnahme, nicht hatte, drehte er die Szene erneut. Ich habe mich immer auf seine Entscheidung verlassen, eine Szene noch mal zu drehen oder nicht.
Was möchten Sie den Zuschauern von Elisa vermitteln?
Ich möchte, dass sie weinend aus den Kinos kommen und sich dabei fragen, wie man so sehr lieben kann. Dass sie diese tiefe Menschlichkeit fühlen, gerade weil sie einen Menschen aus Fleisch, Blut, Tränen und Lachen sehen konnten. Dies eben ist mein grösstes Anliegen bei all meinen Figuren.