Anmerkungen der Autorin zu «Ella»
Die Frage „Wie gehen Frauen mit Wut und Hass um?“, interessiert und beschäftigt mich. Also begann ich zu suchen. Welche Situation könnte eine fröhliche, liebevolle und gesunde Frau dazu bringen, mehr und mehr Wut und Hass zu empfinden?
So entstand Hanna. Mutter eines sechsjährigen Mädchens. Polizistin und Partnerin von Pi. Hannas Welt ist stabil, glücklich und im Lot. Bis zum Tag x, an dem Ella, ihre kleine Tochter an einer Geburtstagsfeier vom Grossonkel missbraucht wird. Ab da ist nichts mehr wie vorher.
Die Recherchegespräche mit der Polizei, der Anwaltschaft, der Staatsanwaltschaft, der Opferberatung, der Kindergynäkologie, der Traumatherapie und der Kinder- und Jugendpsychotherapie zeigten mir, dass der sexuelle Übergriff an Kindern weiterhin ein delikates, schwieriges und heftiges Thema ist.
Als Gesellschaft sind wir uns einig, dass bei schweren Delikten, bei denen ein Kind beispielsweise aufs Brutalste vergewaltigt wird, ein Täter (bzw. im selteneren Fall eine Täterin) ins Gefängnis gehört. Vor einigen Jahren setzten wir als Stimmvolk zudem ein Zeichen. Mit 51,9% nahmen wir die Volksinitiative an, die bewirkt, dass in der Bundesverfassung der Artikel 123b zur Unverjährbarkeit eingeführt wird. Ein Artikel, der besagt, dass „sexuelle und pornografischen Straftaten an Kindern vor der Pubertät“ unverjährbar sind.
Wie aber ist unser Umgang mit sexuellen Übergriffen wie Ella einen erlebt?
Der angezeigten Person kann mit Hilfe von DNA-Spuren nachgewiesen werden, dass es zu intimen Berührungen des Kindes im Genitalbereich kam. Spermaspuren am Tatort weisen zudem auf ein Onanieren des (männlichen) Täters hin. Ein Erlebnis dieser Art muss nicht, kann aber ein Kind tief verstören und zeichnen. Die Entwicklung eines Kindes also gefährden. Hört man zudem den Fachleuten zu, dann führt ein solcher Übergriff in der Regel immer auch zu einer tiefen Erschütterung des Familiensystems. Mit anderen Worten auf der Ebene der Psychologie ist der sexuelle Übergriff eine Bombe für Kind und Eltern. Auf der Ebene der Rechtsprechung führt obiger Tatbestand aber im besten Fall zu einer bedingten Strafe. Nur zu einer bedingten Strafe? Rund um dieses kleine Wort nur krachen die Meinungen regelrecht aufeinander und die Diskussionen werden im Bruchteil einer Sekunde hitzig und emotional. „Du meine Güte, jetzt tut doch nicht so hysterisch!“, findet die eine Seite. Fragt man nachdenklich zurück: „Und wenn er bei deiner Tochter oder deinem Sohn kurz mal so ein bisschen rumgefummelt und abgespritzt hätte, sähst du es dann immer noch so locker?“ Plötzlich kippt die Einschätzung der Schwere schlagartig und es kommt zu so archaischen Antworten wie: „Ich sag dir eins. Wenn diese perverse Sau meine Tochter oder meinen Sohn betatscht, mache ich ihn kalt!“
Was passiert da mit uns, wenn wir so hitzig und widersprüchlich loslegen? In meinen Augen geht es um die polaren Themen von Freiheit und Schutz. Die Meinungen gehen weit auseinander, weil wir uns als Gesellschaft nicht einig sind, ob wir unsere Kinder konsequent gegen jegliche Formen des Missbrauchs und der Gewalt schützen wollen. Oder ob wir doch lieber an altbewährten Mustern festhalten.
Interessanterweise wären die Voraussetzungen im Schweizerischen Strafrecht mit dem Artikel 187 gegeben, harte unbedingte Strafen bei sexuellen Übergriffen an Kindern auszusprechen. Dieser Artikel ermöglichte eine Bestrafung bis zu fünf Jahren Freiheitsstrafe. Wir könnten also eine härtere Linie fahren, aber wir tun es nicht.
Entscheiden wir uns für den noch konsequenteren Schutz unserer Kinder, dann ist „dieses an einem Kind Rumfummeln und halt mal kurz Abspritzen“ ein gravierender Übergriff, bei dem wir - auch juristisch - kein Pardon mehr kennen. Wir entschuldigten und verharmlosten nichts mehr, weil wir den Fokus auf das Wohl und die gesunde Entwicklung des Kindes legen würden. Ein Gesinnungswandel dieser Art hat das Potential eines Paradigmenwechsels, denn dieser Gesinnungswandel bedeutete Dynamit für das Patriachat. Plötzlich würde nicht mehr dem Manne und seiner freien Entfaltung, sondern dem Kinde und seinem Schutze oberste Priorität eingeräumt.
Als Autorin habe ich eine klare Haltung. Wollen wir den Weg hin zu einer modernen Schweiz gehen, dann sollten wir diesen Gesinnungswandel zusammen wagen. Ella ist ein Beitrag dazu.
Kathrin Thomann