Rezensionen / Presse zu «Der Fürsorger»

SonntagsZeitung / Matthias Lerf, 29. November 2009

Mein Name ist Bold. Lügenbold!

Das Kino wird von Hochstaplern erobert: Vom «Fürsorger» bis zu «A l‘Origine»

So ein netter Kerl. Richtig gemütlich, wie er da die Dorfstrasse entlang geht. Er kennt jeden, grüsst alle. Hat beste Laune. Es ist ja auch ein besonderer Tag: Denn heute, weiss er, wird er verhaftet. Und die nächsten Jahre hinter Gittern verbringen.

Roeland Wiesnekker spielt einen Hochstapler in «Der Fürsorger». Eine Paraderolle für den «Strähl»-Darsteller. Er sieht aus, als könnte er kein Wässerchen trüben. Legt alle rein. Und wechselt Wohnort und Beziehungen so flott wie seine Haartracht.

Diesen «Fürsorger» – benannt nach der Sozialhilfe-Tätigkeit, die er eine Weile lang ausübt – hat es wirklich gegeben. Im Mittelland und in Adelboden hat Hans-Peter Streit in den Achtzigerjahren 200 Anleger um insgesamt 11 Millionen Franken betrogen. Dazu manch ein Frauenherz gebrochen. Und dann in der Strafanstalt Witzwil dem Journalisten Philipp Probst seine Lebensgeschichte erzählt: «Ich, der Millionenbetrüger ‹Dr. Alder›». Darauf basiert der Kinofilm «Der Fürsorger».

Gemessen an den verurteilten und nicht verurteilten Betrügern in der Hochfinanz ist er natürlich ein kleiner Fisch. Einer, der mit der Sympathie des Publikums rechnen darf. Gerade in schwierigen Zeiten fühlen sich Menschen herausgefordert, die dem System ein Schnippchen schlagen können. Deshalb bevölkert jetzt – Hallo Matt Damon in «The Informant!» – eine ganze Reihe sympathisch-zwielichtiger Typen die Leinwände. Alle haben Vorbilder im wirklichen Leben.

Der US-Komiker Jim Carrey tut es aus Liebe. In «I Love You Phillip Morris» spielt er einen Ex-Polizisten, der sich in einen Gefängnisinsassen verliebt. Um diesem Phillip Morris nahe zu sein, setzt er Lügengeschichten und Geldströme in Bewegung. Alles erzählt in einer rasanten Filmkomödie, die erst gegen Ende ein wenig an Schnauf verliert.

Ein französischer Hochstapler baute gar eine Autobahn

Der französische Schauspieler François Cluzet tut es aus Not. Frisch aus dem Gefängnis entlassen, gelangt er in eine abgelegene Gegend Frankreichs, wo ein Autobahnbau wegen eines geschützten Käfers in den Feldern eingestellt wurde. Er gibt sich als Vertreter des Autobahnbüros aus, der das Projekt neu überprüft – und schwupps, bald ist er Herr über eine Baustelle mit Dutzenden Maschinen und Arbeitern. All das in «A LOrigine» von Xavier Gianolli, einem berührenden Film, der vor allem von der Extravaganz der Hochstapelei – dieser Mann baut tatsächlich eine Autobahn! – lebt.

Roeland Wiesnekker schliesslich tut es aus Sucht nach Liebe und Anerkennung. Erstaunlich, wie leicht er den Schweizern sein «Finanzsystem nach Dr. Moser» verkauft. In den besten Momenten wird die Komödie von Lutz Konermann so zur bitterbösen Bestandesaufnahme über die Bünzli, die wir alle sind.

Am Ende fliegen die Hochstapler immer auf. Und sind auch irgendwie froh darum. Denn Aussteigen ist das Schwierigste, das zeigen die drei Filme. Und es gelingt ihnen ganz unterschiedlich. Das Vorbild zu Jim Carreys Figur muss noch 144 Jahre im Gefängnis absitzen. Der echte «Fürsorger» aber lebt heute unbescholten mit seiner Familie im Kanton Freiburg. Und der französische Autobahnbauer gilt als verschollen. Dafür brausen heute Autos über die Strasse, die er konstruiert hat.

 

züritipp / Pascal Blum, 10. Dezember 2009

HANSPETER, DER HOCHSTAPLER

Roeland Wiesnekker überzeugt als Millionenbetrüger in einer Schweizer Komödie zwischen Seifenoper und Hörbuch.

Der Spitzbube (Roeland Wiesnekker) sitzt am Tischchen vor einer Confiserie im Berner Oberland. Die Vorbeigehenden rufen ihn den «Doktor». Was ist denn das für einer im Foulard und mit lockiger Mähne? Hans-Peter Stalder, Trickbetrüger und Frauenheld. Aber das wissen wir natürlich noch nicht. Erstmal muss der Dandy auf dem Polizeiposten den Pass zeigen, den bislang niemand gesehen hat. Der Bauernfänger schwafelt erst was von guten Taten, dann wird er müde und serviert den Schaum, den er geschlagen hat.

So beginnt «Der Fürsorger». Das erste Flash-back - es kommen noch mehr - zeigt den Fürsorger, wie er für sich selbst sorgt: An Küchentischen ködert Stalder seine Opfer mit einem mysteriösen Code zur astronomischen Rendite - lieber gut aufschneiden als schlecht abschneiden. Damit schwindelt er sich zum Parvenü mit Chalet im Oberland hoch, wo er seine Nachbarn wiederum mit toxischen Aktien einer Märchenfirma abzockt. Wie Motten fliegen sie zu diesem Bernie Madoff der Alpen und verbrennen ihr Geld: der Verkäufer, der Architekt, der Gemeindepräsident. Zwischendrin gibt sich Stalder als Arzt und Pfarrer aus. Mit der Masche kriegt Stalder auch die Frauen rum, neben seiner ersten Gemahlin - eine doofe Rolle für Johanna Bantzer - noch einige mehr (Katharina Wackernagel und Claude de Demo); der Regisseur Lutz Konermann hat früher mal «Marienhof» gedreht.

In der netten Komödie nach dem Buch «Ich, der Millionenbetrüger ‹Dr. Alder›», den es in Wirklichkeit gab, schaut man besonders dem krummen Roeland Wiesnekker («Strähl») gern zu. Der Bau des Drehbuchs ist so listig wie der Betrüger, ohne dass es zu wirr würde. Von Autonummern bis Banknoten restaurieren die Ausstatter sorgfältig die Achtzigerjahre, trotzdem retten sie den Film nicht vor dem Mief der Geranienkiste. Hört endlich auf mit dieser Postkartenschweiz! Dazu hängt nebeldick die Erzählstimme über dem Film. Wenn Stalder seine Tochter traurig in der Küche sitzen lässt, hören wir: «Zugegeben, ich war nicht sehr präsent zu Hause.» Ach so. Das Kino könnte den Lügner mit einem Schnitt, einem Blick, einer Einstellung entlarven. Zwar handelt «Der Fürsorger» von einem Lügner, aber so wirkt der Film wie ein illustriertes Hörbuch.

 

Der kleine Bund / Thomas Allenbach, 9. Dezember 2009

«Ich traue mir vieles zu»

Süchtige Cops machten Roeland Wiesnekker bekannt. In «Der Fürsorger» verführt der Schauspieler, der so schön kaputt aussehen kann, als biederer Betrüger.

Roeland Wiesnekker gehört zu den ganz wenigen Schweizer Schauspielern, die allein mit ihrer Präsenz einen Film zum Ereignis machen. Das hat der Zürcher Schauspieler mit holländischem Pass in eigentlich all seinen Auftritten bewiesen, seit er mit «Strähl» auf der Leinwand geradezu explodiert ist. Und das tut er auch jetzt wieder in der «Der Fürsorger». «Sein Gesicht macht süchtig», schrieb einmal ein deutscher Journalist. Stimmt. In der Tragikomödie von Lutz Konermann kriegt man wieder die volle Dosis Wiesnekker. Sein Porträt eines Millionenbetrügers als Biedermann ist ein Meisterstück. Wieder erreicht er maximale Wirkung mit minimalem mimischem Aufwand – ein Blick genügt.

Freundlich und zugleich zurückhaltend zeigt sich der 42-Jährige bei der Begegnung in Zürich. Man glaubt ihm aufs Wort, wenn er sagt, er wolle allein mit seiner Arbeit überzeugen, alles andere interessiere ihn nicht. Lieber hockte er in jungen Jahren in Beizen und stempelte, als dass er eine Rolle angenommen hätte, die ihn nicht interessierte. Interviews behagen ihm ebenso wenig wie Auftritte in der Öffentlichkeit. Dazu passt seine Antwort auf die Frage, was ihn, der schon als Kind Schauspieler werden wollte, an diesem Beruf vor allem fasziniere: «Es fühlt sich einfach gut an, in eine fremde Welt abzutauchen.»

Jetzt also taucht Wiesnekker ab in die Welt des Millionenbetrügers Hans-Peter Streit (im Film heisst er Hans-Peter Stalder). Es ist eine Welt muffiger Schweizer Durchschnittlichkeit, eine Welt ziemlich schlimmer Frisuren und knallfarbiger, enger Pullover aus Kunstfasern, es ist die Welt der Siebziger- und Achtzigerjahre, manches ist so hässlich, dass es fast schon wieder kultigen Retro-Charme entfaltet. Mitten drin: Wiesnekker – mal mit Bubifrisur, dann mit Kunstlocken, mal mit Vollbart, dann glatt rasiert – als Fürsorger und Hochstapler, der den Leuten mit dem dreisten Versprechen exorbitanter Gewinne das Geld aus der Tasche zieht und zugleich unter der falschen Existenz leidet, aus der ihn erst die Verhaftung befreit. «Diese Rolle ist natürlich ein Geschenk», sagt Wiesnekker. «Sie beinhaltet, was man als Schauspieler auch macht: sich in eine andere Figur hineinbewegen und diese mit einer Seele und mit Emotionen füllen.»

Gefährliches Spiel mit Identitäten

Schauspieler sollten also eigentlich Experten sein in Sachen Betrug, beide spielen ja mit Identitäten. «Als Schauspieler versteht man vor allem die Tragik dahinter: dass da jemand dauernd behaupten muss, er sei jemand anderer. Das ist ein unglaublicher Kraftakt», sagt Wiesnekker. Haben Sie selbst auch schon jemanden betrogen? «Um Geld? Nein. In der Liebe schon, ja klar, das ist auch mir passiert.» Kommen Sie sich manchmal als Schauspieler auch wie ein Hochstapler vor? «Wie ein Hochstapler vielleicht nicht gerade, weil Hochstapler ja doch eine kriminelle Energie entwickeln. Aber klar, Film ist auch nur Schein. Im Unterschied zu einem Hochstapler geht es für mich als Schauspieler aber nicht um Betrug, sondern im Gegenteil: um die Suche nach Wahrhaftigkeit.» Müssen Hochstapler und Schauspieler nicht selbst an die Welten glauben, die sie schaffen, um glaubwürdig zu sein? «Klar. Aber ich kann trennen zwischen mir und meiner Figur.» Das allerdings sei ihm nicht immer einfach gefallen: «Was ist auf der Bühne, was ist real und wo bin ich: Das war die zentrale Frage für mich, als ich 1989 mit der Schauspielerei begann, weil ich damit nicht klarkam.»

Für seine Rolle hat sich Wiesnekker allein auf das Drehbuch verlassen. Den mittlerweile 63-jährigen Hans-Peter Streit, der Wiesnekkers Leistung in den höchsten Tönen lobt, hat er erst nach der Premiere des Films kennengelernt, dessen Buch hat er erst im Nachhinein gelesen. «Ich wollte eine eigene Figur schaffen, keine Kopie. Ich vertraue meiner Intuition. Hätte ich Herrn Streit getroffen, hätte dies nur meine Fantasie kastriert.»

Für Wiesnekker ist Streit beides, Täter und Opfer, Opfer seiner selbst – um das zu umschreiben, kreiert er ein neues Verb: «Er tätert ja sich selbst.» Gereizt hätten ihn bei dieser Rolle vor allem die tragikomischen Dimensionen. «Wenn man so ein Lügengebäude aufbaut, kann man nicht mehr zurück. Das ist tragisch. Aber da gibt es zugleich auch eine Spielfreude, eine Lust am Verführen. Ich bin froh, dass dies nicht bloss ein tragischer Film ist, sondern dass man auch lachen und schmunzeln kann und angerührt wird.»

Im freien Fall

Zum Schmunzeln gab es in Wiesnekker-Filmen bisher eher wenig. Süchtige Cops, zerrissene, zerschlissene Antihelden, deren Leben einem freien Fall in die innere Verlorenheit gleicht, sind sein Markenzeichen. Der Durchbruch gelang ihm mit der Rolle als Zürcher Drogenfahnder in «Strähl». 2005 erhielt er dafür den Schweizer Filmpreis als bester Schauspieler. Dieser Film öffnete ihm die Türen zu Engagements in Deutschland – und zu sehr ähnlichen Rollen. So spielte er in der Sat.-1-Serie «Blackout – Die Erinnerung ist tödlich» wieder einen süchtigen Polizisten. Die Serie war kommerziell ein Flopp, Wiesnekker aber wurde vom Feuilleton gefeiert, das ihn mit Schimanski und gar mit Harvey Keitel («Bad Lieutenant») verglich. Zu seinen weiteren Rollen zählten ein Ermittler mit Alkoholproblemen («Dr. Psycho»), ein alkoholsüchtiger Star-Chirurg (Tatort «Mit ruhiger Hand») oder ein liebeskranker und quasi-autistischer Warenhaus-Detektiv (in Reto Caffis Oscar-Kurzfilm «Auf der Strecke»). Man sieht: Wiesnekkers Filmografie liest sich wie eine Chronik des Scheiterns, des Verzweifelns.

Ihn selbst nervt es, wenn er auf einen bestimmten Typus festgelegt wird: «Ich bin offen für alles. Ich traue mir vieles zu und habe keinen Hang, stets Süchtige zu spielen. Klar gibt es Rollen, für die ich nie besetzt werde – man hat ja auch sein Äusseres. Dabei muss man aufpassen, weil die Produzenten ziemlich bequem sind und einen gerne in eine Schublade stecken.» Auch in dieser Hinsicht ist «Der Fürsorger» für Wiesnekker ein Geschenk, befreit er sich damit doch aus der Ecke der kaputten Typen. Zudem gehört dieser Film ganz ihm. Es gibt keine Szene und kaum eine Einstellung ohne ihn. Dementsprechend gross war der Druck während der Dreharbeiten – und die Anspannung vor der Premiere: «Man weiss im Voraus ja nicht, ob man das erträgt, eineinhalb Stunden sich selber zuzuschauen. Ich war dann aber angenehm überrascht. Glücklicherweise.»

«Der Fürsorger» Gut schweizerische Tragikomödie

Die Story ist irr, der Film aber ist temperiert und bedächtig, wie es sich gehört für eine Tragikomödie aus den Abgründen schweizerischer Durchschnittlichkeit – und wie es passt zur Hauptfigur: So spektakulär der wahre Fall des Millionenbetrügers Hans-Peter Streit auch ist, der in den Siebziger- und Achtzigerjahren in Lengnau und Adelboden brave Bürger mit einem ominösen Geheimcode und dem Versprechen auf exorbitante Anlagegewinne um nicht weniger als elf Millionen Franken betrog, so unspektakulär ist dessen Held. Roeland Wiesnekker stürzt sich mit Lust und abenteuerlichen Frisuren ins Rollenspiel und porträtiert den Betrüger glänzend als Biedermann und Frauenschwarm, der auf zu vielen Hochzeiten tanzt und nicht nur Opfer seiner Gefallsucht wird, sondern auch einer blindgläubigen Provinzwelt, die geradezu betrogen werden will.

Regisseur Lutz Konermann («Lieber Brad») verzichtet auf naheliegende Aktualisierungen (Madoff etc.) und konzentriert sich zu Recht ganz auf seinen Helden. Dessen Betrügerleben erzählt er in Rückblenden und als in sich verschachtelte Lügengeschichten, was formal dem Sujet perfekt entspricht. Wenn der Film manchmal ins Betuliche zu kippen droht, dann deshalb, weil er auch noch als Lebensbeichte angelegt ist, in welcher sich der Betrüger an seine Tochter wendet und sich nicht ohne Selbstmitleid in Reue übt.

Das Zeug zum Publikumserfolg hat der «Der Fürsorger» aber allemal, zuerst einmal dank Roeland Wiesnekker, dann aber auch dank der insgesamt überzeugenden Besetzung (u. a. Johanna Bantzer, Katharina Wackernagel, Michael Neuenschwander), der liebevollen Ausstattung und dem originellen, populären Stoff.

 

TagesAnzeiger / Thomas Allenbach, 9. Dezember 2009

Die volle Dosis Wiesnekker

Mit der Verkörperung von süchtigen Polizisten ist Roeland Wiesnekker bekannt geworden. Im Schelmenfilm «Der Fürsorger» verführt der Schauspieler nun als biederer Millionenbetrüger.

Roeland Wiesnekker gehört zu den ganz wenigen Schweizer Schauspielern, die allein mit ihrer Präsenz einen Film zum Ereignis machen. Das hat der Zürcher mit holländischem Pass in eigentlich all seinen Auftritten bewiesen, seit er als medikamentensüchtiger Polizist «Strähl» auf der Leinwand geradezu explodiert ist. Und das tut er auch jetzt wieder in «Der Fürsorger». «Sein Gesicht macht süchtig», schrieb einmal ein deutscher Journalist. Stimmt.

In der Tragikomödie von Lutz Konermann bekommt man wieder die volle Dosis Wiesnekker. Sein Porträt eines Millionenbetrügers als Biedermann ist ein Meisterstück. Wieder erreicht er maximale Wirkung mit minimalem mimischem Aufwand - ein Blick genügt.

Freundlich und zugleich zurückhaltend, zeigt sich der 42-Jährige bei der Begegnung in Zürich. Man glaubt ihm aufs Wort, wenn er sagt, er wolle allein mit seiner Arbeit überzeugen. Interviews behagen ihm ebenso wenig wie Auftritte in der Öffentlichkeit. Dazu passt seine Antwort auf die Frage, was ihn, der schon als Kind Schauspieler werden wollte, an diesem Beruf vor allem fasziniere: «Es fühlt sich einfach gut an, in eine fremde Welt abzutauchen.»

Jetzt also taucht Wiesnekker ab in die Welt des Millionenbetrügers Hans-Peter Streit (im Film heisst er Stalder). Es ist eine Welt muffiger Schweizer Durchschnittlichkeit, eine Welt ziemlich schlimmer Frisuren und knallfarbiger, enger Pullover aus Kunstfasern, es ist die Welt der 70er- und 80er-Jahre. Manches ist so hässlich, dass es fast schon wieder kultigen Retro-Charme entfaltet. Mittendrin: Wiesnekker - mal mit Bubifrisur, dann mit Kunstlocken, mal mit Vollbart, dann glattrasiert - als Fürsorger und Hochstapler, der den Leuten mit dem dreisten Versprechen exorbitanter Gewinne das Geld aus der Tasche zieht und zugleich unter der falschen Existenz leidet, aus der ihn erst die Verhaftung befreit. «Diese Rolle ist natürlich ein Geschenk», sagt Wiesnekker. «Sie beinhaltet, was man als Schauspieler auch macht: sich in eine andere Figur hineinbewegen und diese mit einer Seele und mit Emotionen füllen.»

Tragikomische Dimension

Schauspieler sollten also eigentlich Experten sein in Sachen Betrug, beide spielen ja mit Identitäten. «Als Schauspieler versteht man vor allem die Tragik dahinter: dass da jemand dauernd behaupten muss, er sei jemand anderer. Das ist ein unglaublicher Kraftakt», sagt Wiesnekker. Hat er selbst auch schon jemanden betrogen? «Um Geld? Nein. In der Liebe schon, ja klar, das ist auch mir passiert.» Kommt er sich manchmal als Schauspieler ebenfalls wie ein Hochstapler vor? «Wie ein Hochstapler vielleicht nicht gerade, weil Hochstapler ja doch eine kriminelle Energie entwickeln. Aber klar, Film ist auch nur Schein. Im Unterschied zu einem Hochstapler geht es für mich als Schauspieler aber nicht um Betrug, sondern im Gegenteil: um die Suche nach Wahrhaftigkeit.»

Für seine Rolle hat sich Wiesnekker allein auf das Drehbuch verlassen. Den mittlerweile 63-jährigen Hans-Peter Streit, der Wiesnekkers Leistung in den höchsten Tönen lobt, hat er erst nach der Premiere kennen gelernt, dessen Lebensbeichte (die unter dem Filmtitel «Der Fürsorger» neu aufgelegt worden ist und auf welcher der Film basiert) hat er erst im Nachhinein gelesen. «Ich wollte eine eigene Figur schaffen, keine Kopie. Ich vertraue meiner Intuition. Hätte ich Herrn Streit getroffen, hätte dies nur meine Fantasie kastriert.»

Für Wiesnekker ist Streit beides, Täter und Opfer - Opfer seiner selbst. Um das zu umschreiben, kreiert er ein neues Verb: «Er tätert ja sich selbst.» Gereizt habe ihn bei dieser Rolle vor allem die tragikomischen Dimensionen. «Wenn man so ein Lügengebäude aufbaut, kann man nicht mehr zurück. Das ist tragisch. Aber da gibt es zugleich auch eine Spielfreude, eine Lust am Verführen. Ich bin froh, dass dies nicht bloss ein tragischer Film ist, sondern dass man auch lachen kann und angerührt wird.»

Zum Schmunzeln gab es in Wiesnekker-Filmen bisher eher wenig. Süchtige Cops, zerrissene, zerschlissene Antihelden, deren Leben einem freien Fall in die innere Verlorenheit ähnelt, sind sein Markenzeichen. Der Durchbruch gelang ihm mit der Rolle als Zürcher Drogenfahnder in «Strähl». 2005 erhielt er dafür den Schweizer Filmpreis als bester Schauspieler. Dieser Film öffnete ihm die Türen zu Engagements in Deutschland. So spielte er in der Sat-1-Serie «Blackout - Die Erinnerung ist tödlich» wieder einen süchtigen Polizisten. Die Serie war kommerziell ein Flop, Wiesnekker aber wurde vom Feuilleton gefeiert, das ihn mit Schimanski und Harvey Keitel verglich. Zu seinen weiteren Rollen zählten ein Ermittler mit Alkoholproblemen («Dr. Psycho»), ein alkoholsüchtiger Starchirurg in der «Tatort»-Episode «Mit ruhiger Hand» oder ein liebeskranker Warenhausdetektiv in Reto Caffis Kurzfilm «Auf der Strecke». Wiesnekkers Filmografie liest sich wie eine Chronik des Scheiterns, des Verzweifelns.

Es gibt keine Szene ohne ihn

Er selbst ärgert sich, wenn er auf einen bestimmten Typus festgelegt wird: «Ich bin offen für alles. Ich traue mir vieles zu und habe keinen Hang, stets Süchtige zu spielen. Klar gibt es Rollen, für die ich nie besetzt werde - man hat ja auch sein Äusseres. Dabei muss man aufpassen, weil die Produzenten ziemlich bequem sind und einen gerne in eine Schublade stecken.» Auch in dieser Hinsicht ist «Der Fürsorger» für Wiesnekker ein Geschenk, befreit er sich damit doch aus der Ecke der kaputten Typen. Zudem gehört dieser Film ganz ihm. Es gibt keine Szene und kaum eine Einstellung ohne ihn. Dementsprechend gross war der Druck während der Dreharbeiten - und die Anspannung vor der Premiere: «Man weiss im Voraus ja nicht, ob man das erträgt, eineinhalb Stunden sich selber zuzuschauen. Ich war dann aber angenehm überrascht. Glücklicherweise.»

«Der Fürsorger»

Der Film basiert auf einer Lebensbeichte

Die Story ist irr, der Film aber ist bedächtig, wie es sich gehört für eine Tragikomödie aus den Abgründen gutschweizerischer Durchschnittlichkeit - und wie es passt zur Hauptfigur. So spektakulär der wahre Fall des Millionenbetrügers Hans-Peter Streit auch ist, der in den 70er- und 80er-Jahren in Lengnau und Adelboden mehrere Hundert Bürger mit einem Geheimcode und dem Versprechen auf Anlagegewinne um 11 Millionen Franken betrog, so unspektakulär ist dessen Held. Roeland Wiesnekker stürzt sich mit Lust und abenteuerlichen Frisuren ins Rollenspiel und porträtiert den Betrüger glänzend als Biedermann und Frauenschwarm, der auf zu vielen Hochzeiten tanzt und nicht nur Opfer seiner Gefallsucht wird, sondern auch einer blindgläubigen Provinzwelt, die geradezu betrogen werden will.

Regisseur Lutz Konermann konzentriert sich zu Recht ganz auf seinen Helden. Dessen Betrügerleben erzählt er in Rückblenden und als in sich verschachtelte Lügengeschichten, was formal dem Sujet perfekt entspricht. Wenn der Film manchmal ins Betuliche zu kippen droht, dann deshalb, weil er auch noch als Lebensbeichte angelegt ist, in welcher sich der Betrüger nicht ohne Selbstmitleid in Reue übt. Das Zeug zum Publikumserfolg hat der Film aber allemal. Dank Wiesnekker, aber auch dank der überzeugenden Besetzung, der liebevollen Ausstattung und dem originellen, populären Stoff. 

 

Die Wochenzeitung, 10. Dezember 2009

Lange bevor der Millionenbetrug von Bernard Madoff in den USA aufflog, hatte das Bernerland seinen eigenen Madoff-Skandal: In den achtziger Jahren sorgte Hans-Peter Streit für Furore. Der angesehene Mann, der als Fürsorger und Lehrer arbeitete, zog während dreizehn Jahren den Reichen ihr Geld aus der Tasche, verbunden mit dem Versprechen, es mit einer exorbitant hohen Rendite anzulegen. Er malte selber Aktien, belohnte jene, die ihm neue Kundschaft brachten und legte das Geld bei sich in eine Kasse. Dort blieb es teilweise liegen, teilweise gab er es aus oder verschenkte es an Bedürftige.

Der Regisseur Lutz Konermann hat nun mit «Der Fürsorger» das Leben des Hochstaplers verfilmt. Vorlage des Films ist das Buch «Ich, der Millionenbetrüger Dr. Alder» (1994), von Philipp Probst. Streits Lebensgeschichte bietet wunderbaren Stoff für einen Film, und dass die schillernde Figur von Roeland Wiesnekker gespielt wird, ist eine kluge Wahl. Einmal mehr beweist Wiesnekker, was für ein grossartiger Schauspieler er ist: Glaubwürdig verwandelt er sich vom motivierten, Schnauz tragenden Fürsorger Hans-Peter Stadler in den gebrochenen, bärtigen Häftling Stadler oder in den Dauerwelle tragenden, dandyhaften Dr. Claudius Lenz. Unter dieser Identität beginnt Stadler nach einem Gefängnisausbruch ein neues Leben. Doch bald findet er sich wieder in einem Netz von selbst gesponnenen Lügen. Er kann nicht von seinem Geschäft lassen - und jene, die sich Profit davon versprechen, erst recht nicht.

Lutz erzählt die Geschichte verschachtelt in mehreren Rückblenden. So hüpft der Film zwischen den verschiedenen Zeitebenen, stets begleitet von Stadlers Stimme aus dem Off, die in einem Brief an seine Tochter erzählt, wie es wirklich war. «Der Fürsorger» ist ein witziger Film, mit einer Aktualität, von der bei Drehbeginn niemand geträumt hatte. 

 

Neue Luzerner Zeitung / Urs Arnold, 10. Dezember 2009

Schwindler, Frauenheld und Fürsorger: Die Geschichte des Millionenbetrügers Hans-Peter Streit ist fast zu gut, um wahr zu sein. Die Verfilmung ebenfalls.

Hans-Peter Stalder ist als Fürsorger im Dörfchen Wengnau ein geschätzter Mann. Indes haben die Bewohner mitbekommen, dass er neben seiner Frau Gerda (Johanna Bantzer) auch noch eine Affäre mit der hübschen Beatrice (Claude de Demo) unterhält. Und dieser gleich noch den Lebensunterhalt finanziert. Kosten, die seinen Beamtenlohn doch deutlich übersteigen müssten.

Aus Erklärungsnot erfindet Stalder die Geschichte eines Herrn Moser der Chemie Schweiz AG. Er habe ihm einen Geheimcode gegeben, womit in die Firma getätigte Investitionen eine Rendite von bis zu 50 Prozent abwerfen würden. Zu Stalders Verwunderung steigt bald das halbe Dorf auf den Schwindel ein. Bis der Gemeindepräsident in sein Büro tritt – um sich zu vergewissern, ob auch er einen Beitrag anlegen könne.

Vom Lügen zersetzt

So ist das Fundament eines Lügengebäudes gezimmert, welches Stalder im Verlauf der Siebziger- und Achtziger-jahre bis ins Blau des Himmels hinein errichtet. Spielend flunkert er sich in Frauenherzen, zu Doktorwürden und sogar zum Kirchenprediger. Doch das Lügen zersetzt den sensiblen Mann mit Geltungsdrang langsam und treibt ihn beinahe in den Suizid.

Die Geschichte von Stalder ist eigentlich die von Hans-Peter Streit. Der heute 62-jährige ehemalige Millionenbetrüger veröffentlichte 1994 seine Lebensgeschichte in Buchform. «Ich habe schwer gebüsst für meine Betrügereien», gibt er im Vorwort zu.

Die dunkle Seite

Der deutsche Regisseur Lutz Konermann verliert Streits beziehungsweise Stalders dunkle Seite nie aus den Augen, auch wenn «Der Fürsorger» humorvoll ist und nur oberflächlich auf die Psychologie seiner Hauptfigur eingeht. Vorneweg wird aber das angespannte Verhältnis zur Tochter Conny als Kontrapunkt zur unterhaltsamen Lügentirade gesetzt.

Auch wenn die realen Betrügereien von Hans-Peter Streit keine Kavaliersdelikte waren: Im Film darf man sich getrost auf Kosten der Opfer amüsieren. Zu Stalder kommen nämlich die Bünzlis und Berufsneider der Provinz mit glänzenden Äuglein. Später, im Gerichtssaal, sind sie zugekniffen: Die Anleger echauffieren sich über den Schwindel, frei von der Einsicht, dass ihre Raffgier ihm überhaupt die Türen öffnete. «Der Fürsorger» ist fabelhaft darin, dem hiesigen Spiessbürgertum immer wieder den Spiegel vors Gesicht zu halten. Ohnehin erinnert sein durch und durch schweizerisches Kolorit an das Kino-Nationalheiligtum «Die Schweizermacher» von 1978 mit Emil Steinberger.

Man fühlt sich wohl in diesem Erinnerungen weckenden Ausstattungskino, in dem Roeland Wiesnekker nicht bloss durch seine aberwitzigen Frisuren auffällt. Als klotziger Bengel mit Engelsgesicht ist er die treffende Verkörperung des unauffälligen Typus Hans Muster, der wider Erwarten doch beides bekommt: das Geld und die Frauen. Und der Schweizer Film bekommt vielleicht endlich wieder einen Kassenschlager.

 

Express:

«Der Fürsorger» ist ein durch und durch schweizerischer Ausstattungsfilm.

Roeland Wiesnekker spielt darin sehr treffend einen Schwindler im grossen Stil.

Filmmusik aus Schwyz

Wie fühlt sich ein Film ohne Musik an? «Seltsam», sagt Dani Häusler. Der Klarinettenspieler der Schwyzer Ländler-Kapelle Hujässler spielte zusammen mit seinen drei Mitmusikern Markus Flückiger, Reto Kamer und Sepp Huber einige Lieder für «Der Fürsorger» ein. Regisseur Lutz Konermann hatte sie angefragt, und nachdem man sich auf die Zusammenarbeit geeinigt hatte, schaute sich das Quartett den musikfreien Film an. «Konermann meinte, der Film brauche noch ein wenig Swissness. Darum kam er auf uns zu», erinnert sich Häusler.

Bei der Mitarbeit handelte es sich jedoch nicht um die Komposition von Filmmusik. Diese blieb dem Luxemburger Künstler Anselme Pau vorbehalten. Die Hujässler bekamen die Noten zugeschickt, probten einen Abend lang und nahmen die Lieder dann in einem Studiotag auf. «Wir spielten mehrere Variationen ein und übergaben dann das Material dem Regisseur», erklärt Häusler. Das Resultat hält, was Konermann sich versprach: Der traditionelle und zugleich innovative Sound der Hujässler begleitet ausgewählte Szenen unverwechselbar schweizerisch.

 

Basler Zeitung / Matthias Heybrock, 10. Dezember 2009

Tricks eines Hochstaplers

Die Bekenntnisse eines Schweizer Millionenbetrügers hat der Regisseur Lutz Konermann amüsant in Szene gesetzt. Die Geschichte ist wahr, das 80er- Jahre-Dekor erschreckend echt und Roeland Wisnekker ist trotz hässlicher Perücken charmant.

Die Schweiz sei einfach zu heimelig für grosse, erschütternde Dramen, klagt es aus der hiesigen Filmbranche zuweilen. Doch hat nun der rheinländische Regisseur Lutz Konermann («Lieber Brad») in seiner vermeintlich so wohlgeordneten Wahlheimat eine (wahre) Geschichte aufgespürt, die beste Voraussetzungen hat, das Gegenteil zu beweisen. Sie spielt in den Achtzigern und handelt vom Millionenbetrüger Hans-Peter Streit; ein Hochstapler, der sich das Geld fremder Leute mit einem atemberaubend simplen Trick erschwindelte: Er erfand eine Firma, die angeblich riesige Profite machte und verkaufte interessierten Anlegern Anteile. Gelegentlich gab es darauf eine «Dividende», weil solche Erfolgsnachrichten den Finanzstrom weiter fliessen liessen. Den Grossteil des Geldes freilich hat Streit schlicht und einfach verprasst.

Rückblenden. Konermann hat diesem Spitzbuben in seinem Film den Namen Stalder gegeben. Roeland Wiesnekker («Strähl») verkörpert ihn mit wechselnden Perücken auf so charmante Weise, dass man ihm sein Tun niemals wirklich übel nehmen kann. Eine der ersten Szenen zeigt ihn als Doktor Claudius Lenz, angeblich Kinderarzt zu Bern, und von einer düsteren Vorahnung geprägt.

Tatsächlich klingelt es kurz darauf an der Tür und ein Beamter bittet den ehrbaren Bürger schüchtern aufs Revier – «nur eine Lappalie, Sie entschuldigen». Lenz jedoch kann die Lappalie nicht erklären und entschliesst sich, einfach auszupacken. Es folgen mehrfach verschachtelte Rückblenden, deren wildes Mäandern das getreue Abbild der abenteuerlichen Lebensumstände dieses Mannes ist.

Dieser Dramaturgie zu folgen, ist ausgesprochen amüsant – aber leider auch nicht viel mehr. Konermann reiht hübsch Station an Station und belässt es beim Aufzählen von Situationen anstatt ein Psychogramm seines (Anti)-Helden zu erstellen: Ein Mann, der beim ersten Mal eher zufällig log. Der dann log, um die erste Lüge zu decken. Der so Lüge auf Lüge, Legende auf Legende türmte – und sich selbst wunderte, warum er sogar nach einem Knastaufenthalt noch damit durchkam. Ein Gehetzter; ein Opfer seines eigenen Zwangsverhaltens, das den erschwindelten Luxus kaum je richtig geniessen konnte.

Dem Irrsinn dieser Biografie wird Konermanns freundlich plätschernder Film nicht immer gerecht. Gegen Ende aber gibt es eine Szene, die es in sich hat. Da steht Stalder nach gestandener Tat bereits vor Gericht. Die von ihm geprellten Menschen treten als Kläger auf und keifen vor Wut – um gleich darauf pikiert zu schweigen, wenn der Richter trocken fragt, warum in aller Welt sie ihr Vermögen so gutgläubig hergaben? Warum ihre Gier so gross war, dass sie jedes vernünftige Mass verloren?

Der beissende Spott dieser Szene führt direkt zu den Wirtschaftsnachrichten unserer Tage. Sie entwickelt eine exemplarische Kraft und Schärfe, die man dem «Fürsorger» häufiger gewünscht hätte. Denn das tollste Drama kann nicht wirken, wenn die Inszenierung im Heimeligen stecken bleibt.

 

Neue Zürcher Zeitung, 10. Dezember 2009

Mit selbstgebastelten Aktien und hanebüchenen Storys ist es dem Berner Betrüger Hans-Peter Streit in den siebziger und achtziger Jahren gelungen, nicht nur gutgläubigen Naivlingen Geldbeträge in Millionenhöhe aus der Tasche zu ziehen – aus Mitleid, wie er später vor Gericht feststellt, und weil er Menschen glücklich machen wollte. Der Schweizer Filmemacher Lutz Konermann hat die im Zytglogge-Verlag erschienene Beichte Streits, «Ich, der Millionenbetrüger Dr. Alder», nun nach selbst verfasstem Drehbuch auf die Leinwand gebracht und dabei einen vielversprechenden Film mit wenig Substanz geschaffen. Zwar erzählt Konermann die bewegte Lügengeschichte Streits alias Stalder mit einer zweifachen Rückblende in einem anspruchsvollen Konstrukt, doch wird die Figur des Betrügers – wendig und mit Mut zur Dauerwelle dargestellt von Roeland Wiesnekker – psychologisch bis zuletzt kaum fassbar: Dass das Geheimnis und Charisma Stalders gerade in einer bipolaren Veranlagung liegen könnte, bleibt bis zum Ende eine unbestätigte Vermutung.

 

Zürichsee-Zeitung / Benjamin Bögli, 10. Dezember 2009

Wahre Story des falschen Arztes

«Der Fürsorger» erzählt die wahre Geschichte eines Schweizer Hochstaplers, der in den 80er Jahren nationales Aufsehen erregte. Eine Traumrolle für Hauptdarsteller Roeland Wiesnekker.

Er war angesehen, hatte Frau und Kinder, ein Haus, einen Hund – und war ein Hochstapler. Hans-Peter Streit ergaunerte über fünf Millionen Franken und sorgte für Schlagzeilen: «Der falsche Herr Dokter lebte in Saus und Braus», hiess es etwa am 28. Mai 1988 im «Blick». Der Autor Philipp Probst veröffentlichte Streits Geschichte als Buch unter dem Titel «Ich, der Millionenbetrüger Dr. Alder». Nun kommt dieser «falsche Herr Doktor» auf die Leinwand. Roeland Wiesnekker spielt den Hans-Peter Streit, der im Kanton Bern über Jahre hinweg sein Umfeld täuschte und Millionen scheffelte. Im Spielfilm von Lutz Konermann heisst er Hans-Peter Stalder. Zum Zeitpunkt seiner Verhaftung Ende der 80er Jahre hatte er natürlich einen anderen Namen.

Das Publikum lernt ihn als Doktor Claudius Lenz kennen; er gibt sich als Kinderpsychologe aus und lebt im Berner Oberland. Die Polizei verhaftet ihn, weil er bei der Einwohnerkontrolle keine Papiere vorweisen kann. Aus dem Gefängnis schreibt er seiner Tochter einen Brief, in dem er sich zu seinen Taten bekennt. Der Film erzählt nun in Rückblenden, wie aus Stalder, dem Fürsorger eines kleinen Dorfes, ein Millionenschwindler wurde.

Wunderbare Geldvermehrung

Sein Trick war relativ einfach: Er nutzte seine Kontakte zur Bevölkerung aus, indem er ihnen vormachte, er könne ihr Geld mit bis zu 50 Prozent Rendite anlegen. Er, Stalder, habe nämlich sehr gute Beziehungen zum Finanzdirektor der «Chemie Schweiz AG» und kenne einen Geheimcode, der das Geld im Nu vermehre. Und siehe da: Bald schon legte das halbe Dorf inklusive Gemeindepräsident das Geld beim angeblichen Finanzjongleur an. Statt zu investieren, lebte dieser fortan mehr oder weniger in Saus und Braus, hatte mehrere Frauen und Wohnungen. Seine Gläubiger sahen bis auf wenige Ausnahmen ihr Geld nie wieder. Stalder flog auf und kam ins Gefängnis. Er konnte fliehen und liess sich im Berner Oberland unter falschem Namen als Kinderpsychologe mit seiner zweiten Frau nieder. Bald fiel er ins alte Muster zurück und zog die Leute mit seinem Geheimcode-Schwindel wieder über den Tisch.

Traumrollen

Für einen Schauspieler muss «Der Fürsorger» ein Traum sein. Er kann sich in bloss einem Film in den verschiedensten Rollen austoben. So spielt Hauptdarsteller Roeland Wiesnekker («Strähl», «Doktor Psycho») einen Heilsarmee-Soldaten, einen Sozialarbeiter, einen Familienvater, einen Wirt, einen Gefangenen, einen Psychologen und immer mal wieder einen Geschäftsmann. Wiesnekker nutzt diese seltene Gelegenheit auch und überzeugt sowohl in der Rolle des gerissenen Anlageberaters als auch als weinerlicher Ehemann.

Die wahre Geschichte hat auch das Zeug, das Kinopublikum zu unterhalten. Die Story ist spannungsgeladen und romantisch, hat aber durchaus auch eine tragische Note. Regisseur Konermann («Lieber Brad») entschied sich für eine eher gemächliche Inszenierung. Er setzt nicht den Thrill des Hochstaplers ins Zentrum, sondern fängt die gemütliche Stimmung der Landbevölkerung auf. Dadurch ist manchmal nicht ganz klar, in welche Richtung «Der Fürsorger» gehen soll: Ist es eine Komödie, ein Drama oder einfach die Bestandesaufnahme eines aussergewöhnlichen Lebens? Das Drehbuch, die Schauspieler und der typische 80er-Jahre-Stil bringen jedoch viel Charme und Humor ein.

 

Berner Zeitung, Aargauer Zeitung / Hans-Jürg Zinsli, 9. Dezember 2009

Ansichten eines Hochstaplers

«Der Fürsorger» zeigt das Leben des Betrügers Hans-Peter Streit.

Ein älterer Herr mit schütterem Haar sitzt im Frühstücksraum des Hotels Rössli in Zürich. Sein massiger Körper ist untersetzt, das Gesicht wirkt freundlich. Einen gewieften Millionenbetrüger und notorischen Schürzenjäger stellt man sich anders vor. Grösser. Glamouröser.

«Mein Talent ist, dass ich die Leute überzeugen kann», sagt Hans-Peter Streit. 1947 in Münsingen geboren und unter schwierigen Familienverhältnissen aufgewachsen, zog Streit in den Siebziger- und Achtzigerjahren gutgläubigen Privatanlegern Millionen aus der Tasche. Seine Masche: ein «Geheimcode», mit dem man fürs investierte Geld in kürzester Zeit traumhafte Renditen erzielen könne. Zu Hunderten krochen sie dem ehemaligen Fürsorger aus Lengnau BE auf den Leim.

Nachdem Streit 1982 in Zürich ein erstes Mal verhaftet worden war, trat er den vorzeitigen Strafvollzug in Witzwil an. Doch die Gewissensbisse lasteten schwer. Streit brach aus, wollte sich in der Aare ertränken. Stattdessen lernte er die Liebe seines Lebens kennen. Mit ihr zog der Flüchtige unter dem Namen Dr. Claudius Alder nach Adelboden und fand dort weitere Jagdgründe für seine Betrügereien – bis zum 25. Mai 1988. Da wurde er zum zweiten Mal verhaftet. «An diesem Tag schwor ich mir: Jetzt ist Schluss.»

Geblieben aus jener Zeit ist Streits Charisma. So bald der ehemalige Fürsorger und Millionenbetrüger, der heute im Kanton Freiburg lebt, den Mund auftut, fühlt man sich wohl und aufgehoben. «Als Fürsorger und Lebenskunde-Lehrer war dieses Talent ein Segen», sagt Streit. «Aber wenn man es missbraucht, wird es zum Fluch.»

Nun ist aus dem Fluch ein Film geworden: «Der Fürsorger» von Lutz Konermann (siehe Kritik) basiert auf Streits literarischer Selbstbeichte «Ich, der Millionenbetrüger ‹Dr. Alder›», die er im Gefängnis vom Journalisten Philipp Probst schreiben liess. Er habe kein Verlangen gehabt, sich nun auch noch im Film anzuschauen, gesteht Streit. Mit fast lethargischen Gefühlen habe er sich in eine Spezialvorführung des Films gesetzt – und sei begeistert gewesen. Auch seine Frau und seine Tochter hätten kaum glauben können, wie nahe der Film ans Buch herangekommen sei. «Dabei hatte ich weder mit Regisseur Konermann noch mit Hauptdarsteller Roeland Wiesnekker gesprochen.»

Wiesnekker, der den «echten» Streit um fast einen Kopf überragt, erklärt, weshalb er keinen Kontakt wollte: «Reale Figuren wirken bei fiktionalen Geschichten meist hinderlich. Ich las auch das Buch nicht. Meine Fantasie ist stärker.» Als er Streit nach der Filmvorführung begegnet sei, habe sich dieser beeindruckt gezeigt, aber auch gesagt: «Die Leute lachen jetzt über mein Leben, obwohl es die Hölle war, und der Wiesnekker verdient Geld damit.»

Apropos Geld: Wenn Streit darüber spricht, schwingt ein bitterer Unterton mit. «Bis an mein Lebensende werde ich Schulden haben. Wer jemanden umbringt, hat keine Schulden.» Es ist das einzige Mal, dass sich Streits Miene während des Gesprächs im Hotel Rössli verdüstert. «Geld ist dieser Gesellschaft wichtiger als ein Menschenleben.» Da schüttelt selbst ein Millionenbetrüger den Kopf.

Möglicher Kassenschlager

Hanspeter Stalder (Roeland Wiesnekker), der mit gewinnendem Lächeln und hanebüchenen Geschichten gutgläubigen Menschen Millionen aus der Tasche zieht, ist zuerst als Fürsorger in Wengnau, später als angeblicher KinderarztDr. Claudius Lenz in Adelmatten. Die behelfsmässig veränderten Namen verraten es rasch: «Der Fürsorger» von Lutz Konermann basiert auf dem wahren Fall von Hans-Peter Streit, der in den Achtzigerjahren in Lengnau und Adelboden seine Anleger mit unglaublichen Renditeversprechen über den Tisch zog (siehe Haupttext).

«Der Fürsorger» hat das Zeug zum Kassenschlager. Der behäbige Tonfall erinnert an «Die Herbstzeitlosen», und Allerweltsweisheiten suggerieren eine träfe Gefühlsschwarte. Schade bloss, dass die Drehbuchautoren (Lutz Konermann, Felix Benesch) ihrem Stoff nicht trauen und die simple Hochstaplergeschichte in viel zu komplizierte Rückblenden einbetten – mit dem Effekt, dass Aussage und Anspruch des Films meilenweit auseinanderklaffen. Und auch der sich in zahlreichen Verkleidungen durchs Leben lügende Stalder kommt einem trotz Ganzkörpereinsatz von Roeland Wiesnekker («Strähl», «Auf der Strecke») nie wirklich näher. Zu weit hat sich da das filmische Konstrukt bereits von seiner Vorlage entfernt. (zas)

 

«Ich liebe Berndeutsch»

Herr Wiesnekker, wie haben Sie sich auf die Rolle des Hans-Peter Streitim Film «Der Fürsorger» vorbereitet?

Roeland Wiesnekker: Intuitiv, beim ersten Lesen des Drehbuchs ergibt sich eine Art Grundgefühl. Wegen der vielen Zeitsprünge zwischen den Siebziger- und den Achtzigerjahren musste ich mir zusätzlich eine Art mathematisches System zurechtlegen.

Worin bestand die Schwierigkeit?

Wiesnekker: Als Schauspieler kann man immer nur eine Sache aufs Mal spielen. Gleichzeitig den unterschwelligen Druck und die aufgesetzte Lüge zu zeigen, das geht nicht.

Spürt man als Schauspieler,wann man die Figur «geknackt» hat?

Wiesnekker: Nein, das ist ein Prozess, der nie aufhört. Nur bei Details wie einer Geste oder einer Redensart spürt man, wenn sie passt.

Wie schwer fiel es Ihnen als gebürtiger Niederländer und Zürcher, Berndeutsch zu lernen?

Wiesnekker: Ich liebe das Berndeutsch. Aber ich musste feststellen, dass es schwieriger war, als ich dachte. Das, was ich jetzt im Film spreche, ist nicht authentisches Berndeutsch. Aber das passt ja zu einem Film über einen Hochstapler.

«Der Fürsorger» hatte mit Budgetsorgen zu kämpfen. Wie viel haben Sie davon als Schauspieler mitgekriegt?

Wiesnekker: Ich versuchte es von mir fernzuhalten. Aber natürlich kriegt man es trotzdem mit. Der Film spielt in einer Zeitspanne von 23 Jahren, da ist das Dekor enorm teuer. Einige Szenen mussten auch gestrichen werden, weil kein Geld mehr da war, etwa eine Szene in der psychiatrischen Klinik, die den tragischen Aspekt der Hauptfigur noch verstärkt hätte. 

 

Basler Zeitung / Simon Spiegel, 10. Dezember 2009

«Die Leute wollen belogen werden»

Hans-Peter Streit gab die Vorlage für den Film «Der Fürsorger» von Lutz Konermann

Der «echte Fürsorger» Hans-Peter Streit hat eine mehrjährige Haftstrafe verbüsst. In dieser Zeit hat er gemeinsam mit dem Journalisten Philipp Probst ein Buch über seine Karriere verfasst.

Mit dem Buch und der Haft war die Betrügerkarriere für Streit abgeschlossen. Doch anlässlich des Films «Der Fürsorger» (siehe Seite 43) spricht er wieder über sein Leben als Hochstapler.

BaZ: Hans-Peter Streit, Sie haben Ihren Opfern geradezu absurde Dinge verkauft: Selbstgemalte Aktien, Verwaltungsratsmandate bei Mercedes, ein Sportmonopol – wie war das möglich? Sind die Leute so naiv? Oder wollen sie belogen werden?

Hans-Peter Streit: Dass die Leute belogen werden wollen, ist offensichtlich. Unsere Gesellschaft ist derart schizophren: Wenn die Leute nicht belogen werden, sind sie nicht glücklich. – Dass man mir alles geglaubt hat, ist aber wahrscheinlich auch eine Begabung, die mir in die Wiege gelegt wurde. Dass ich dieses Talent habe, wusste ich schon in der Schule. Schon damals hat man immer mich vorgeschickt, um die Kastanien aus dem Feuer zu holen. Und vor meinem Absturz habe ich als Sozialarbeiter damit vielen Leuten helfen können. Durch mein Talent konnte ich den Leuten die Beschlüsse der Behörden so verkaufen, dass sie das Gefühl hatten, das sei auch wirklich gut für sie.

Sind Sie der geborene Geschichtenerzähler?

Nein, gar nicht. Ich bringe knapp eine Gutenachtgeschichte zusammen. Meine Lügen waren immer situationsbedingt. Ich stand unter Druck: Bis dann und dann will der Soundso so viel Geld von mir – da wird man automatisch fantasievoll.

Wären Sie mit Ihrem Talent nicht der geborene Politiker?

Nein. Dafür habe ich viel zu wenig gelogen. Politiker sind chronische Lügner, ich habe nur situationsbedingt gelogen.

Aber was war denn Ihr ursprünglicher Antrieb? Brauchten Sie Liebe oder Anerkennung?

Überhaupt nicht. Ich hatte immer genug Liebe, und auch Anerkennung hatte ich mehr als genug. Der Antrieb war ein anderer: 1976 erlebte die Uhrenindustrie in Lengnau eine Rezession und die Arbeitslosenversicherung war damals noch nicht so gut ausgebaut wie heute. Ich dachte, ich könnte eine eigene Fürsorge aufbauen – ich war so leidenschaftlich in meinem Beruf. Ausserdem kam noch eine private Zahnarztrechnung dazu. Und dann machte ich den ersten Fehler.

Welchen?

Ich pumpte bei einem Notar, der mit mir in der Vormundschaftsbehörde war, mit einer Lügengeschichte 20 000 Franken. Dann kam ein Banker aus Lengnau dazu, und plötzlich merkte ich, dass ich 50 000 Franken Schulden hatte, die ich nicht zurückzahlen konnte. Ich bin heute überzeugt, dass mir nichts passiert wäre, wenn ich meinen Fehler zugegeben hätte.

Warum haben Sie das nicht getan?

Ich bin aus falschem Stolz nicht dazu gestanden. Und nachdem es bei den beiden so einfach gegangen war, ging es plötzlich auch bei den anderen. Ich musste gar nichts tun; die Leute brachten mir das Geld unaufgefordert ins Büro. Die kamen zu mir, als gäbe es warme Weggli.

Haben Sie damals gemerkt, dass etwas schiefläuft, oder waren Sie in einer Art Rausch?

Ich habe es schon gemerkt, aber ich dachte, es wäre bereits zu spät. Ich habe genau das Gegenteil von dem gemacht, was ich meinen Klienten gepredigt habe. Denen habe ich stets gesagt, dass es immer einen Ausweg gibt, wenn man es rechtzeitig merkt: «Aber wartet nicht, bis es zu spät ist!» Ich aber habe genau das Gegenteil gemacht und Gas gegeben. Deshalb habe ich auch Hunderttausende von Franken verteilt.

Waren Sie eine Art Robin Hood?

Ich habe mich nicht so gesehen, die anderen haben mich immer so bezeichnet – sogar der Richter während der Verhandlung. Ich dachte einfach, dass es nun auch nicht mehr darauf ankommt. Ich kriege nicht mehr oder weniger Knast, wenn ich noch Geld an Leute verschenke, denen es nicht gut geht. Ich war schliesslich Fürsorger aus Berufung.

Das alles liegt mehr als 20 Jahre zurück, nun kommt Ihre Geschichte ins Kino. Geht der Film auf Ihre Initiative zurück?

Überhaupt nicht. Im Gegenteil: Ich hatte erst gar keine Freude an dem Projekt, ich fand die Idee geradezu pervers. Aber ich konnte nichts dagegen machen, denn die Rechte zu meinem Buch lagen beim Verlag.

Hatten Sie Kontakt mit dem Regisseur Lutz Konemann?

Nein, und so viel ich weiss, hat der Hauptdarsteller Roeland Wiesnekker mein Buch nicht einmal gelesen. Als ich mir den Film ansah, ging ich mit einem komischen Gefühl in den Kinosaal und kam überwältigt wieder raus. Dass man, ohne je mit mir zu sprechen, so nahe an der Geschichte bleiben konnte, hätte ich nicht für möglich gehalten.

Wie haben Sie sich denn gefühlt, als Sie den Film gesehen haben?

Es war brutal. Für mich war das ein Leben, mit dem ich schon lange abgeschlossen habe – eigentlich mein vorletztes Leben. Und im Kinosaal holte mich das wieder ein. Mein Leben, das ich mit meinem Buch eigentlich abschliessen wollte, war plötzlich, zack, wieder da.

 

Der Landbote / Stefan Busz, 2. Oktober 2009

Die Geschichte von Hans-Peter im Glück

Zurich Film Festival goes Heimatfilm. «Der Fürsorger» von Lutz Konermann ist im Wettbewerb des besten deutschsprachigen Films.

Zürich – Die Schweiz ist eine Fototapete. Schwer sieht das Land nach den Siebzigerjahren aus. Lutz Konermann scheint für seinen Film «Der Fürsorger» die Zeit ganzer Städte und Dörfer auf retro gedreht zu haben: Gegenwart raus, VW Käfer rein. Und so wird stilvoll durch die ganze Geschichte eines Betrugs karriolt: bis zum Porsche Cabrio.

Es ist überhaupt ein Film der Wandlungen. Die Schweiz zeigt sich auf dem Weg zum Wirtschaftswunderland. Am Anfang ist alles noch ein bisschen kleinkariert: Braun in braun ist der Ton der Tapeten in der Zweieinhalb-zimmerwohnung, in der der Fürsorger Hans-Peter Stalder wohnt, zusammen mit seiner Frau (er kennt sie von der Heilsarmee). Entsprechend bigott ist die Moral (und klein auch das Bett) – bis zum Umsturz aller Verhältnisse: Hans-Peter will das Glück vermehren – die anderen verstehen aber darunter nur das Geld. Und auf einmal ist eine grössere Wohnung da. Ein teureres Auto. Eine neue Freundin. Eine andere Identität. Wieder eine andere Freundin. Und am Schluss hat dieser Hans-Peter im Glück neben seinen zusammengeschnorrten Millionen noch einen Harem beisammen.

Die Geschichte des Betrugs ist eigentlich ganz einfach, es geht um den Ponzi-Trick auf Gemeindeebene. Der Fürsorger Hans-Peter Stalder schwadroniert von seiner Lizenz zur Geldvermehrung, und alle Menschen glauben ihm seine Geschichte. Sie fallen auf die Schwindelfiliale einer Chemie-Schweiz AG, geführt von einem Dr. Moser aus Basel, herein. Jedermann will betrogen sein, wenn es um das Schmieden des eigenen Glücks geht: im Dorf, wo Hans-Peter die lokalen Alkoholiker und andere Süchtler betreut, dann in der Stadt, in der er (schon als Jean- Pierre) von der Kanzel herab den Kapitalismus predigt, schliesslich im Berner Oberland, wo er, schon ein (falscher) Doktor der Kinderpsychologie geworden, den Gewerbetreibenden selber gebastelte Aktien der Schweiz AG zu Fantasiepreisen andreht.

Ein Nonvaleur ist dieser Hans-Peter aber selber, einer, der nicht anders kann, als immer nur Geschichten zu erzählen, die eine Lüge in sich haben: der Ponzi-Trick gehört für ihn zum Prinzip Liebe. Roeland Wiesnekker gibt diesem Luftmenschen das Gesicht und die Frisuren, und es ist faszinierend zu sehen, wie sich dieser Fürsorger der Umgebung anpassen kann. Ton in Ton geht er in dieser Landschaft auf: mit dem beigen Rollkragenpullover im Büro (als Fürsorger), mit dem Pyjama im Bett (als Liebhaber), mit dem halbseidenen Krawattentuch in der Villa (als Dr. Kinderpsychologe). Ob langhaarig oder onduliert: Das ist der Stoff, aus der die Seele der Schweiz AG ist.

Quer durch die Zeit

Eine einfache Geschichte eines Betrugs, der wirklich auch so in der Schweiz passiert ist, so scheint es. Aber der Regisseur Lutz Konermann erzählt von diesem Leben eines Luftmenschen auf ganz verschiedenen Ebenen. Der Anfang ist hier schon das Ende, und Hans-Peter muss sein Leben von den Anfängen, abgekürzt: von der ersten Liebe an, schildern. Von hier geht es kreuz und quer durch die Zeit der Siebziger- und Achtzigerjahre. Die Wege der Personen trennen sich und kommen wieder zusammen, je nach Glaube, Liebe, Hoffnung.

Das verlorene Lachen

Lutz Konermann, 1958 im Rheinland geboren, seit Jahren auch für SF DRS tätig, kennt den Stoff, aus dem die Schweizer Fernseh- und Filmträume sind. Perfekt ist hier die Dramaturgie eines Lebens ausbalanciert zwischen Sein und Schein, Lachen und Weinen, VW-Käfer und Porsche Cabrio. Besonders viel muss aber Roeland Wiesnekker weinen, damit gewinnt er auch immer wieder die Sympathie der Frauen. Dann aber haben meist seine Partnerinnen (in Sachen Liebe) und seine Partner (mit ihrer Liebe zum Geld) schon das Lachen verloren. Und dazu noch viele andere Sachen dazu.

Wir können aber darüber lachen. Wie über eine Zirkusnummer, die zu scheitern droht, dann aber doch gelingt: mit einem kleinen Trick.

Die Schweiz nur als Folie für Lächerlichkeiten? Natürlich versammeln sich hier alle Geister des neuen Heimatfilms. Der Film lässt aber auch hinter die Tapete der Schweiz AG schauen. Und dort sieht es ein bisschen aus wie in Seldwyla. Überall verlorene Seelen, die das eigene Glück schmieden.

 

SIDE B