Regisseur Rudolph Jula im Gespräch


Weshalb haben Sie für Ihren ersten Film genau diese Geschichte gewählt?

Ich hatte eine Erinnerung an Pinien, durch die das Sonnenlicht fällt, an diesen warmen Duft... Es war Winter, und ich hatte plötzlich Sehnsucht, woanders zu sein... Am Meer, und das heisst für mich immer Mittelmeer. Der Ausgangspunkt meiner Geschichte war die Idee einer ersten Erinnerung. Eine Erinnerung, die älter ist als das klare Bewusstsein.
 
Wie stark ist der Film autobiografisch geprägt?
Ich bin der Sohn eines Italieners und einer Schweizerin. Italien ist eine Art Heimat der Erinnerungen für mich. Die Geschichte meiner Familie ist für mich wie ein Steinbruch, ein Fundus, wo ich immer wieder neue Teilchen finde, die in fiktive Geschichten einfliessen, sie bereichern oder ein zentrales Motiv abgeben. «cattolica»  ist eine durch die eigene Familiengeschichte inspirierte Fiktion.

Dennoch trifft der Film mit dem Thema der Identität des Vaters beziehungsweise der Frage des Kuckuckskindes auch den Zeitgeist. Man denke nur an die aktuellen Doku-Soaps und Zeitungsartikel zu dem Thema...
Ja, das ist etwas, was mir beim Schreiben des Drehbuches auch bewusst war. Im Film finden Martin und Stefan erst nach dem Tod der Mutter heraus, dass sie Brüder sind. Und machen sich dann auf die Suche nach dem Vater und ihren Wurzeln. Es ist kein Zufall, dass diese Thematik gerade in der heutigen Zeit soviel Aufmerksamkeit erhält. Das Thema der wahren Vaterschaft hat eine ganz neue Bedeutung erhalten, weil die Geschlechterrollen immer wieder in Frage gestellt werden. Durch die Emanzipation der Frau ist ein Druck entstanden, der wiederum Gegendruck erzeugt: Männer wollen ihr Vatersein verifizieren. In cattolica sind es vor allem die Söhne, die diesen Anspruch haben. Zuallererst Martin. Um sich von der Mutter zu lösen, muss er die wahre Identität des Vaters kennen lernen.

Die Frauen in «cattolica»  sind einerseits abwesend und doch sehr präsent.
Vor allem die Mutter, die ihr Geheimnis ihr Leben lang vor Martin hütete. Erst nach ihrem Tod wurde es durch einen Zufall enthüllt. Die Mutter hat im Leben jedes Mannes einen prägenden Einfluss. Für Martin ist sie eine Figur, die sein Leben heimlich beeinflusst und manchmal auch beherrscht, die ihn zur Befreiung herausfordert. Gleichzeitig Feindin und Freundin. Im Zentrum des Filmes stehen zwei Söhne, die unfreiwillig mit der Lebensgeschichte der Mutter konfrontiert werden. Für Martin ist die Suche nach dem Vater ein Akt der Selbstbefreiung. Dieses unausgesprochene Geheimnis ist wie ein Fluch, der nur durch diese Reise in die Vergangenheit gebannt werden kann.

Welche Rolle hat das Zusammenspiel der Geschlechter im Film?
Die Mutter von Martin und Stefan scheiterte daran, dass sie aufgrund sozialer Unterschiede nicht den Mann heiratete, den sie liebte. Die Ehe mit dem passenden Mann scheitert wiederum am Geheimnis, das sie aus der alten in die neue Beziehung mitnimmt. Ihr Sohn Martin ist der klassische schweigsame Mann. Er glaubt nicht an Worte und deren Wahrheit. Er glaubt an das Schweigen und den Instinkt. Gerade weil er selbst die Erfahrung gemacht hat, dass ihm von seiner Mutter ein Geheimnis mit ins Leben gegeben wurde. Als Geschiedener steht Martin in einer Reihe mit sehr vielen Menschen. Das Zusammenspiel der Geschlechter ist ein untergründiges und auch zentrales Thema des Filmes. Ein Thema, das mich auch persönlich sehr interessiert. Weil heutzutage so viele Menschen daran scheitern.

Wieso haben Sie für den Film den Titel «cattolica»  gewählt?
Die erste Erinnerung meines Lebens ist mit dem Ort Cattolica, einem Badeort an der Adria, verbunden. Deshalb hatte das Wort für mich einen besonderen Klang. Der reale Ort spielt auch im Film eine zentrale Rolle. Allerdings in einer fiktiven Handlung, nicht mehr als persönliche Erinnerung. Ausserdem finde ich, dass die Anspielung auf den Katholizismus gut zu dem Land passt, in dem der Film spielt. Italien ohne Katholizismus ist wie die Schweiz ohne Berge. Das Wort cattolica beschreibt eine mir vertraute kulturelle Identität. Meine Vorfahren kamen aus Italien, Spanien und Süddeutschland. Sie hatten etwas gemeinsam, sie kamen alle aus dem katholischen Arbeitermilieu. Deshalb erschien mir der Titel «Cattolica» für eine Familiengeschichte ganz natürlich.

Worin äussert sich das Besondere dieser Identität?

Der Katholizismus steht für mich für einen Kulturraum, der nicht auf der Transparenz und dem Glauben an das Wort, sondern auf der Erscheinung und dem Glauben an das Geheimnis beruht.  Es gibt in dieser Kultur eine Ebene des Geheimnisvollen und auch des Verbotenen, des Unausgesprochenen und doch Gelebten. Davon ist wiederum auch meine Familie stark geprägt. In jeder Generation gab es den Tabubruch und das Tabu.

 


Interview: Sara Leu

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