Interview mit der Regisseurin Barbara Albert zu «Nordrand»

Zu «Nordrand»

Ich bin in einer Wohnsiedlung am Nordrand von Wien aufgewachsen, im 21. Bezirk, in "Transdanubien”. Der 21. Bezirk war immer sehr proletarisch. Unser Haus hatte nur vier Stockwerke, aber viele meiner Freunde wohnten in der Nähe in viel größeren Siedlungen. Im Vergleich zu ihnen bin ich wohlbehütet aufgewachsen - also nicht so wie meine Protagonistin Jasmin. In meiner Nachbarschaft gab es aber viele Leute wie Jasmins Familie, zum Beispiel eine Familie, wo die Kinder alle entweder im Gefängnis waren oder regelmäßig vom Vater verprügelt wurden... Ich bin trotzdem gern dort aufgewachsen, weil ich gespürt habe, daß das sehr nah am Leben ist. Du hast gewußt, wenn Herr X seine Tochter wieder einmal verprügelt hat, daß er sich dabei das Bein gebrochen hat und alle haben darüber gelacht. Jeder wußte immer, was wo passierte...

Die siebziger Jahre waren in diesen großen Neubausiedlungen sehr aufregend, es herrschte eine richtige Aufbruchstimmung. Das hängt mit der politischen Situation dieser Jahre zusammen. Die Sozialisten unter Bruno Kreisky waren zu dieser Zeit sehr stark. Wir zogen ein, als ich vier Jahre alt war und plötzlich waren da so viele Kinder, mit denen meine Geschwister und ich im Hof spielen konnten. Ende der siebziger und Anfang der achtziger Jahre sind Kriminalität und Drogenprobleme in diesen Siedlungen aufgekommen. Interessant ist aber, daß die Jugendlichen von damals heute mit ihren Familien wieder dort wohnen. Das finde ich auch gar nicht tragisch, es kommt nur darauf an, wie sie ihr Leben dort leben ... Und noch jetzt, wenn ich am Abend durch die "Großfeldsiedlung” gehe, ist das für mich sehr idyllisch. Man hört die vielen Kinder - das ist wie im Süden, am Balkon sitzen und Erdbeerbowle trinken ... «Nordrand» ist für mich auch ein Abschied von der Kindheit. Auch die beiden Frauen im Film beginnen am Schluß etwas Neues.


Die Neunziger Jahre

«Nordrand» ist für mich ein Konglomerat von vielen Dingen, die mein Leben ausmachen. Aber es geht nicht nur um die Beziehung der beiden Frauen zueinander. Ich habe 1995 angefangen, das Drehbuch zu schreiben und hatte damals meine Bilder der letzten Jahre gesammelt. Daraus ist dann irgendwie der Film entstanden. Anfangs war das ein irrsinniges Puzzle von Dingen, die mir oder Leuten, die ich kenne, passiert sind. Es gibt, glaube ich, nicht viele Szenen, die überhaupt keinen persönlichen Bezug zu mir haben.

Für mich waren die Neunziger Jahre eine Zeit großer politischer Veränderungen in Osteuropa. Eine Zeit, in der viele Leute aus dem Osten in den Westen gekommen sind, um hier "ihr Glück zu machen”. Und natürlich war da der Krieg in Ex-Jugoslavien und überall das Aufkommen der Rechten, das zur Folge hatte, daß auch die anderen Parteien noch ein bißchen weiter nach rechts rückten. "Politisch" zu sein ist nicht sehr modern oder vielleicht liegt das daran, daß es immer schwieriger wird, eine eigene Meinung zu haben ... Die Neunziger waren auch eine Zeit der Clubbings, Love Parades und Spaß haben - ein Gefühl, viel mehr Freiheit zu haben...

Die Grenzen schienen sich zu verändern und mehr zuzulassen als vorher ... Aber die Neunziger gaben uns auch das Gefühl, daß vieles nur aufgrund der Medien und für diese passierte.


Tamara und Jasmin

Es stört mich nicht, wenn die Leute «Nordrand» als "Frauenfilm” bezeichnen. Ich schäme mich nicht dafür, aber ich mag es nicht, wenn man "Frauenfilme” und "Männerfilme” unterscheidet. Warum sind Filme von Frauen so oft "Frauenfilme” und die von Männern nie "Männerfilme”? Warum wird es besonders erwähnt, wenn ein Film von Frauen handelt, und als normal erachtet, wenn man von Männern erzählt?

Tamara und Jasmin sind nicht nur sehr unterschiedliche Frauentypen; in gewisser Weise sind sie sogar richtige Gegensätze. Als ich anfing, «Nordrand» zu schrieben, war meine Idee, zwei gegensätzliche Frauen zusammenzubringen. Meine persönliche Geschichte ist weder die von Jasmin noch die von Tamara. Aber während der Arbeit an dem Buch habe ich immer gedacht, daß mir Tamara näher ist als Jasmin. Jetzt empfinde ich das ganz anders. Manche Züge von Jasmin sind meinem Charakter viel ähnlicher als ich zu Beginn geglaubt habe. Da ich oft von eigenen Erfahrungen ausgehe, haben die Charaktere natürlich auch viel mit mir zu tun.

Tamara und Jasmin treiben aus unterschiedlichen Gründen ab. Jasmin kann sich einfach nicht vorstellen, wie es sein könnte, ein Kind zu haben. Um ehrlich zu sein, denkt sie auch nicht wirklich darüber nach. Das Probelm ist wohl eher, daß sie mit niemandem darüber sprechen kann. Für Jasmin ist die Antwort ganz einfach: Wenn du kein Kind haben willst, dann läßt du es abtreiben. In ihrer Lage gibt es keinen anderen Ausweg - es ist kein Vater da, sie wohnt noch bei ihren Eltern, sie kann mit ihnen nicht darüber sprechen und sie empfindet sich selbst noch als Kind. Tamaras Schwangerschaft dagegen paßt nicht in ihr Leben. Es ist einfach noch zu früh für ein Kind.

Ich glaube, daß eine Abtreibung etwas ganz Normales ist. Viele Leute sprechen nur sehr vorsichtig darüber. In Österreich ist eine Abtreibung bis zum Ende des dritten Schwangerschaftsmonats legal, eine Beratung durch kirchliche oder soziale Stellen ist nicht zwingend. Zuletzt war die Abtreibung in den Medien ein großes Thema, als die sogenannte "Abtreibungspille” auf den Markt kam. Die Kirche, die in Österreich noch immer sehr viel Macht hat, hat sich besonders scharf dagegen ausgesprochen. Ich habe viele Dinge gehört, die mich sehr ärgerten. Aber bald danach war alles so wie vorher. Nur ein paar extreme Abtreibungsgegner stehen noch immer vor Wiener Abtreibungskliniken und erzählen den Frauen, daß sie einen Fehler begehen und daß sie Mörderinnen sind etc.


Ethnische Vielfalt in Wien

Serben sind wahrscheinlich die größte ethnische Gruppe in Wien. Ungefähr 200’000 Menschen aus den verschiedensten Gebieten Ex-Jugoslawiens leben hier. Das ist ziemlich viel für eine Stadt mit 1.7 Millionen Einwohnern. Die meisten kamen in den Siebziger Jahren nach Wien. Deshalb gibt es eine große Gruppe von Jugendlichen der "zweiten Generation”. Während des Bosnienkrieges hat Österreich viele Flüchtlinge aufgenommen. Die meisten gingen wieder zurück oder wurden abgeschoben. In Wien gibt es eine Vielfalt von Menschen aus Osteuropa, der Türkei und dem Nahen Osten.

Es ist eigenartig, daß es in Österreich so wenige Filme gibt,in denen Ausländer die Hauptpersonen sind. Ich bin sehr froh über die Mehrsprachigkeit in «Nordrand» und darüber, daß all diese Ostsprachen vorkommen. Tamara spricht mit ihrer Familie serbisch, Valentin spricht rumänisch und Senad bosnisch.

Wenn man in Wien mit der U-Bahn oder der Straßenbahn fährt, kann man viele verschiedene Sprachen hören. Ich wollte diese Sprachenvielfalt im Film um die Atmosphäre so nahe als möglich an der Realität zu halten. Ich mag dieses Sprachengemisch. Und ich arbeite gern mit Leuten aus verschiedenen Kulturen und Gesellschaftsschichten ... Edita Malovcic, die Tamara spielt, ist in Österreich geboren, aber ihre Mutter kommt aus Serbien und ihr Vater aus Bosnien. Ich habe den rumänischen Schauspieler Tudor Chirilà in Bukarest für die Rolle des Valentin gefunden. Er ist auch ein sehr guter Theaterschauspieler und Sänger der rumänischen Band Vama Veche. Astrit Alihajdaraj, der den Bosnier Senad spielt, ist eigentlich Kosovo-Albaner. Das ist das einzige Mal, wo die Besetzung nicht ganz authentisch ist, was mir immer ein großes Anliegen ist.

 
Träume und Realität

Was ich am Filmemachen so mag, ist die Möglichkeit, den "Träumen” die selbe Wichtigkeit zu geben wie der Realität. Mir geht es auch um die Gleichzeitigkeit dieser unterschiedlichen Ebenen. In «Nordrand»  sieht man zum Beispiel in einer Szene ein kleines Mädchen in Russland, das eine Barbie-Puppe auspackt, die Valentin zuvor einem LKW-Fahrer verkauft hat. Oder wenn wir plötzlich einen der Darsteller in Australien sehen - das kann wahr sein oder einfach eine Vorstellung von mir oder von einem der Protagonisten. Das ist etwas, was ich beim Film überhaupt gern mag, daß du einfach irgendwohin springst, zu irgendeinem Menschen; wenn der Film aus seiner Geschichte herausgeht, zu einer anderen Geschichte. Das ist mir wichtig - und dann plötzlich zu verstehen: das ist nur ein kurzer Moment, ein Ausschnitt und es gibt noch viele andere mögliche Ausschnitte.


Der Krieg

Während ich «Nordrand» geschrieben habe (begonnen habe ich im Herbst 1995), dachte ich oft, daß ich über Dinge schreibe, die ich nicht wirklich kenne... Ich begann, Bosnier und Serben zu interviewen und für den Film zu casten. Ich traf viele junge Flüchtlinge, die darüber redeten, wie es ist, seine Heimat zu verlassen und in Österreich zu leben. Darüber, was es bedeutet, Flüchtling zu sein, und über ihre Traurigkeit. Das hat mein Interesse geweckt und weil ich zu dieser Zeit noch an der Filmhochschule war, beschloß ich, einen Dokumentarfilm darüber zu drehen, «Somewhere else». Im Spätfrühling 1996 fuhren meine Kamerafrau Christine Maier und ich nach Sarajewo. Ich wollte wissen, wie die Situation dort während und nach dem Krieg war. Zur gleichen Zeit begann ich, an der Figur des Senad zu arbeiten. Zu dieser Zeit war es sehr schwierig, in Sarajewo zu drehen. Manchmal schämte ich mich richtiggehend dafür, "Kriegs-Tourist” zu sein. Krieg ist etwas, das ich nie verstanden habe. Selbst nach den Interviews, die ich für «Somewhere else» geführt habe, verstehe ich den Krieg nicht besser. Ich kann noch immer nicht mehr sagen, als daß ich den Krieg verabscheue. Während der Vorbereitungen zu «Nordrand»  gab es diese Diskussion, ob ich glaube, daß das Drehbuch, das 1995 mit Bezug auf den Bosnienkrieg geschrieben wurde, noch aktuell ist oder ob ich es nicht lieber an den Kosovo-Konflikt anpassen will. Ich glaube, daß der Film sehr aktuell ist und bin froh, daß ich bei der für mich gültigen Version geblieben bin.

Der Kosovokrieg hat mich besonders stark erschüttert, weil ich das Gefühl hatte, daß sich bei uns niemand mehr so richtig dafür interessiert, weil man durch den langen Balkankrieg desensibilisiert war. Man hat zwar Geld für die Flüchtlingslager gesammelt, aber ich hatte das Gefühl, daß der Krieg nicht wirklich in unseren Köpfen präsent war. Es gab die große Diskussion über die Bedeutung der NATO-Bombenangriffe. Plötzlich konnte keiner mehr sagen, ob er für oder gegen den Krieg war. Ich finde es erschütternd, daß wir langsam begonnen haben, den Krieg als einzige Konfliktlösung zu akzeptieren.

Der Kosovokrieg fiel genau mit der Nachproduktion von «Nordrand» zusammen. Wir haben den Film fertiggedreht und die NATO-Bombardierungen begannen. Am Tag nach Beendigung des Schnitts hörten die Bombardements auf. Der Beginn der Synchronisation war am ersten Tag, an dem keine Bomben mehr fielen und viele der Darsteller waren da. Tudor hat gerufen "Hey, the war is over!" aber letzlich war der Krieg noch nicht vorbei. Aber der Moment war schön.

Einmal standen Edita (Tamara) und Astrit (Senad) am frühen Morgen mit ihrem Kaffee an der Bar. Der politische Konflikt zwischen den Kosovo-Albanern und den Serben war zwar vorhanden, aber die beiden haben sich immer sehr gemocht. Und jemand fragt, "Wie ist das jetzt mit deinen Eltern, Astrit?” und irgendwie stand der Krieg so im Raum. Plötzlich dreht sich Edita zu Astrit und sagt: "Du, ich habe überhaupt nichts gegen dich, ich mag dich total gern” und umarmt ihn und er lacht und sagt "Ich mag dich auch!”. Das hat mich berührt. «Nordrand» war ja immer auch das Nebeneinander von unterschiedlichsten Menschen.

SIDE B